wasserspeier (ablaufrinne mit drachenkopf aus metall) auf schloss ambras, innsbruck. fotos: claudia ruppitsch, 2006.
wasserspeier erinnern mich an neidköpfe, menschliche oder tierische (schreck-)fratzen bzw. (spott-)figuren aus holz oder stein an fassaden, fenstern, giebeln oder eckbalken von wohnhäusern, kirchtürmen, domen und klöstern, ferner an säulen und stadtmauern. das wort "neid" bedeutet im älteren deutschen sprachgebrauch allgemein "feindschaft jeder art" bzw. in tirol "zauber".
wie berit in ihrem forumbeitrag erwähnt, werden wasserspeier wie neidköpfe zumeist in die nähe der unheilabwehr (vgl. gorgoneion) gestellt. nach traditionellem volksglauben wussten sich die menschen gegen das böse, wie den neid, mit abwehrzauber, wie der anbringung einer schreckfratze, zu helfen. mit traditionellen apotropäischen deutungsversuchen geht die europäische ethnologie heute vorsichtig um.
oswald sailer (1980, 562), der sich mit neidköpfen in südtirol beschäftigt, bezieht sich zur frage der abwehrwirkung von fratzenhaften gesichtern an tiroler kirchen auf anton dörer, der bereits 1951 feststellt: "Nicht alle können gleich als Abwehrornamentik ... einzig mit dem Nachwirken der Antike und dauernder Dämonenfurcht erklärt werden ... die Maskenbilder beanspruchen kein Eigenleben, sie stehen in höheren Diensten (Sinnbilder der Versuchung)."
sailer unterscheidet zwischen zwei arten von neidköpfen, einmal den "wirklichen" neidköpfen, wo in den fratzen als merkmal ein ausdruck des schreckens, des dämonischen oder des grauens erkennbar ist. hier lässt sich für ihn menschlicher abwehrwille erkennen. gängige tier- und menschenköpfe, wie sie in jeder stadt zu finden sind, hält sailer (1980, 564) für harmlosere zeitgenossInnen: "Sie sind meist schwer zu erkennen und zu erblicken, und häufig läuft man an ihnen vorbei, nicht ahnend, welch eigenartiger Menschenwille sie dorthin gesetzt hat, wo sie sich zur Zeit befinden. Dabei ist nicht einmal gesagt, daß ein bestimmter Wille sie dort anbringen ließ, wo sie zu sehen sind: Zeitgeschmack und Mode, häufig reine Willkür und völlige Ahnungslosigkeit waren die Motive besonders seit der Renaissance. [...] Sie sagen einem nichts, diese Löwenköpfe und Wasserspeier, sie sind Erzeugnis des menschlichen Triebes nachzuahmen."
anderer meinung sind die kunsthistorikerinnen heike mittmann (2002) und regina schymiczek (2006). schymiczek zufolge wurden die skulpturen sehr bewusst ausgewählt. sie vergleicht die wasserspeier an den domen in köln, regensburg und magdeburg, am freiburger münster oder an den pfarrkirchen in siegburg und ahrweiler und analysiert motivgruppen (hunde und drachen, maulreißer und brustweiserinnen). schymiczek kommt zum ergebnis, "daß die Wasserspeier nicht nur als fließende Grenze zwischen dem himmlischen Jerusalem und dem Machtbereich des Bösen fungieren, sondern auch als sozialer Kommentar zur mittelalterlichen Stadtgeschichte".
den symbolwert der wasserspeier am freiburger münster hat zuvor schon heike mittmann untersucht. hinternentblößer und maulaufreißer sind beispielsweise spottfiguren; das schwein, das sich "laut Bibel 'nach der Schwemme wieder im Schlamm wälzt' (2 Petr 2,22), steht sinnbildlich für die wankelmütigen Gläubigen, die sich immer wieder aufs neue vom 'Schmutz' der Welt verführen lassen. Als Verkörperung von Unmäßigkeit und Gier stellt es auch eine der 'Sieben Todsünden' dar"; der affe symbolisiert mit seinem nachahmungstrieb den teufel. "Häufig verwandte man den Affen auch als Mittel der Parodie, um damit bestimmte Gesellschaftsschichten, wie Kleriker und Mönche aufs Korn zu nehmen. Noch heute weist die Redensart 'jemanden nachäffen' auf die negative Deutung des Tieres hin."
verwendete literatur:
Mittmann, Heike: Die Wasserspeier am Freiburger Münster. Kunstverlag Josef Fink, 2. Aufl. 2002.
Sailer, Oswald: Neidköpfe in Südtirol. In: Der Schlern, 54 (1980), Heft 12.
Schymiczek, Regina: Höllenbrut und Himmelswächter. Mittelalterliche Wasserspeier an Kirchen und Kathedralen. Verlag Schnell & Steiner 2006. Siehe auch Dies.: Über deine Mauern, Jerusalem, habe ich Wächter bestellt ...: zur Entwicklung der Wasserspeierformen am Kölner Dom. Frankfurt am Main u. a. 2004. (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 28, Kunstgeschichte, Bd. 402)
literaturtipps:
Benton, Janetta Rebold: Holy terrors: gargoyles on medieval buildings. New York u. a. 1997.
Scharfe, Martin: Neidköpfe im Remstal. In: Württemberg. Jahrbuch für Volkskunde, 1957/58, 156-179.