So, ich stelle mal die Fortsetzung meiner Volkslyrik-Sammlung aus Kindertagen ein:
8. Jetzt wird‘s vaterländisch - auch wenn unsere Kindervariante davon nichts mehr übrig gelassen hat:
Ick hab mir überjeben
von hier bis anne Wand,
die Mutter steht daneben
mit‘m Nachttopp inne Hand.
Die Urfassung lautet: "Ich hab mich ergeben / mit Herz und mit Hand / dir, Land voll Lieb und Leben, / mein deutsches Vaterland." Wir haben das vor 1945 im Kindergarten beim allmorgendlichen Appell unter der Hakenkreuzfahne gesungen. Mit Verwunderung lese ich jetzt im Internet, daß das Lied viel älter ist: Es wurde um 1820 gedichtet.
9. Hiervon gab es, soweit ich mich erinnere, nur diese eine Zeile:
Die Fahne hoch und dabei fest jesoffen ...
Das war das sog. Horst-Wessel-Lied (1928/29): "Die Fahne hoch, die Reihen dicht geschlossen, SA marschiert mit ruhig festem Schritt ..." Auch das lernten wir im Kindergarten. Eine Zeile daraus hat mich auch nach 1945 noch jahrelang beschäftigt: "Kam'raden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschiern im Geist in unsern Reihen mit": Wie machen Erschossene das, daß sie "im Geist in unsern Reihen mit" marschieren? Als Tote haben sie doch keinen "Geist" mehr?!
10. Hier ist die Aussage des Urtextes kurz und bündig ins Gegenteil verkehrt:
Märkische Heide, Märkischer Sand,
haste daran Freude, haste keen Verstand.
Der "offizielle" Text hieß: "Märkische Heide, märkischer Sand / sind des Märkers Freude, sind sein Heimatland. / Steige hoch, du roter Adler, hoch über Sumpf und Sand, / hoch über dunkle Kiefernwälder! Heil dir, mein Brandenburgerland!"
Auch das sangen wir im Kindergarten unter der Fahne. Es war so eine Art Nationalhymne der Mark Brandenburg (für Österreicher: das Land um Berlin drumrum), die einen roten Adler im Wappen führte. Lt. Internet wurde der Text 1923 von einem gewissen Gustav Büchsenschütz gedichtet.
11. Und nun wieder weg von der Politik:
Hinaus in die Ferne
mit Butterbrot und Speck,
det eß ick ja so jerne,
det nimmt ma keena weg,
und wer det tut,
den hau ick uff‘n Hut,
den hau ick uff de Neese,
det se blut‘.
Ich habe nie eine andere Version dieses Textes gekannt. Aber Googeln bildet ja: Da heißt es: "Hinaus in die Ferne / mit lautem Hörnerklang / die Stimmen erhebet / zum männlichen Gesang ... Text und Musik: Albert Methfessel, um 1813, zuerst mit der Melodie des Dichters in der ,Zeitung für die elegante Welt', Leipzig 1814." (Irgendwie hab ich mir unter "Eleganter Welt" immer was anderes vorgestellt.)
12. Von meiner Oma habe ich diesen Pseudo-Bibelvers gelernt:
Jesus sprach: So ihr keinen Löffel habet, so nehmet die Finger.
Meine Oma stammte aus einem Dorf im katholischen Rheinland, doch ihre Familie gehörte zur evangelischen Minderheit. Katholische und evangelische Kinder beschimpften einander auf der Straße, und Erwachsene erzählten allerlei Anekdoten, die die jeweils andern verspotteten. In dieses Umfeld gehört so ein Satz - wahrscheinlich haben ihn beide Konfessionen gebraucht, um sich über die Gläubigkeit der anderen lustig zu machen.
13. Sozusagen ein Sprichwort war die Schlagervariante geworden:
In einer kleinen Konditorei,
da saßen wir zwei
und fraßen für drei.
Da der Schlager das Werk zweier Österreicher war (1929, Text: Ernst Neubach, Melodie: Fred Raymond), nehme ich an, daß die Verbalhornung in Österreich erst recht populär war. Der Urtext: "In einer kleinen Konditorei, / da saßen wir zwei / bei Kuchen und Tee. / Du sprachst kein Wort, / kein einziges Wort, / und wußtest sofort, / daß ich dich versteh. / Und das elektrische Klavier, das klimpert leise / eine Weise von Liebesleid und Weh ..." Ja, der sogenannte Volksmund hat's nicht so mit Liebesleid und Weh, genauso wenig wie er's mit dem vaterländischen Pathos hatte - er ist da schon handfester.
14. Die westdeutschen Schlager kannte man bei uns im Osten genauso, und die westdeutschen Produkte ebenfalls. Die Mauer stand ja noch nicht, und wir fuhren ab und zu zwei S-Bahn-Stationen weit nach Berlin-Wannsee, um für unglaublich viel Geld (der Wechselkurs!) einiges zu kaufen, was es bei uns nicht gab:
Ei, ei, ei, Sanella,
Sanella auf dem Teller,
wenn Sanella ranzig wird,
dann kommt sie in den Keller.
Kaum ist die Kellertüre zu,
hat Sanella keine Ruh,
denn die Mäuse beißen zu.
Dem Text lag der Schlager zugrunde: "Ay, ay, ay, Maria, / Maria aus Bahia ..." (1948)
15. Jetzt kommen wir in die 50er Jahre:
Steig in das Schaumbad von Fewa.
wasch dir die Füße mit Rei,
putz dir die Zähne mit Ata,
dann bist du wieder wie neu.
Das war eine Persiflierung von "Steig in das Traumboot der Liebe, fahre mit mir nach Hawaii ...", gesungen von Caterina Valente, Mitte der 50er Jahre - der Zeit, als die Waschmittel-Werbung allgegenwärtig war (und jedes Mittel wusch noch weißer!). Fewa heißt heute in Deutschland Perwoll, in Österreich aber immer noch Fewa; auch Rei und Ata gibt es noch.
16. Zum Schluß noch ein Spruch, den ich nicht aus meiner Kindheit kenne, sondern später von einem Freund aus Köln hörte - der Stadt, in der die im Vers genannte Firma ihren Sitz hat:
Wenn Opa in das Kissen beißt, nimm Klosterfrau Melissengeist.
Er zitierte ihn als in seiner Kindheit (späte 50er Jahre) üblichen Spottvers.
Besonders die satirischen Umdichtungen beeindrucken mich - jetzt, da sie mir wieder eingefallen sind. Kennt jemand weiteres dieser Art?