• Willkommen im SAGEN.at-Forum und SAGEN.at-Fotogalerie.
    Forum zu Themen der Volkskunde, Kulturgeschichte, Regionalgeschichte, Technikgeschichte und vielem mehr - Fotogalerie für Dokumentar-Fotografie bis Fotogeschichte.
    Registriere Dich kostenlos, dann kannst Du eigene Beiträge verfassen und eigene Fotos veröffentlichen.

Vergessene Industrie: Das Gaswerk

Nicobär

Member
Noch bis in die Mitte der 60er Jahre gabe es in jedem größeren Ort, erst recht in jeder Stadt etwas, was heute, 60 Jahre später, schon komplett in Vergessenheit geraten ist: das Gaswerk. Gaswerke waren letztendlich Kokereien. In ihnen wurde der Stein- und Braunkohle das in ihr gebundene Methan entzogen. Das gewonnene Methan wurde dann in der sogenannten Gaswäsche gereinigt und anschließend über das kommunale Rohrleitungsnetz an die Endkunden geliefert. Ab dem letzten Vierteil des 19. Jahrhunderts leisteten sich viele Städte eine Straßenbeleuchtung mit Gas. Das war ein enormer Fortschritt, waren doch die Städte zuvor nach Sonnenuntergang in so eine Finsternis gehüllt, dass es ratsam war, auch als Fußgänger stets eine Handlampe, in ihr brannte entweder eine Kerze oder sie wurde mit Petroleum oder Walöl betrieben, mit sich zu führen.
Das in den Gaswerken gewonnene Gas war allerdings nicht ganz unproblematisch. Zum einen entpuppte es sich als ein adäquates Selbstmordmittel, zum anderen kam es, v.a. in kalten Wintern mit tief gefrorenen Böden, immer wieder zu schweren Gasexplosionen, bei denen Häuser zerstört wurden und Menschen zu schaden und ums Leben kamen.
Ab den 60er Jahren verdrängte dann das Erdgas als Ferngas das in den Gaswerken erzeugte Stadtgas. Die Gaswerke, die mit ihren großen Gasometern die Silhouette einer jeden Stadt für rund hundert Jahre prägten, wurden abgerissen und verschwanden sang- und klanglos aus dem Stadtbild.
Der Heimatverein Warendorf hat meiner Meinung nach dem städt. Gaswerk, einem heute fast restlosen, aber sehr wichtigen Element der Technik- und Industriegeschichte ein sehr würdiges Denkmal gesetzt.

 
Erlaube mir eine kleine Ergänzung:

Laut meinem Großvater gab es in den größeren Städten in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts neben den damals sehr verbreiteten Beleuchtungen Kerze und Petroleum auf jedem Fahrzeug vom Fahrrad bis zur Kutsche Karbidlampen. Laut seiner Schilderung sehr häufig, so dass es kaum zu Unfällen selbst bei schlechtem Wetter in tiefster Nacht kam.



Wolfgang (SAGEN.at)
 
Stimmt - die Karbidlampen hatte ich noch vergessen.
Karbid war ja noch von der Jahrhundertwende an bis in die 60er Jahre hinein ein wahres Zaubermittel.
 
Ich habe mich jetzt nach Deinem interessanten Hinweis ein klein wenig in historischer Literatur umgeschaut:

"Das neue Buch der Erfindungen, Gewerbe und Industrien", Fünfter Band, Die Chemie des täglichen Lebens.
Leipzig und Berlin 1867.

Darin ist ein ausführliches Kapitel "Die Beleuchtung, insbesondere die Gasbeleuchtung und die damit zusammenhängenden Industriezweige", in dem die verschiedenen Beleuchtungsarten verglichen werden, eben insbesondere die Öl- und Gasbeleuchtung der Städte und Haushalte.
So lautet es schon 1867:
"So entstand in großer Schnelligkeit eine Gasgesellschaft nach der anderen und jetzt gibt es in Großbritannien kaum eine Stadt von 3000 Einwohnern, welche nicht ihre Gasanstalt hätte. Sogar ein großer Teil des Kontinents wird jetzt durch englische Unternehmer mit Gas beleuchtet."

Ein gewisser Herr Winzler aus Znaim hatte sich im Jahr 1802 für die Beleuchtung der Stadt Wien mit Holzgas eingesetzt.

Dem Wesen des Buches entsprechend folgen dann seitenlange Erklärungen, welche Rohstoffe für die Produktion von Leuchtgas welche Vor- und Nachteile bringen.
Das Holzgas, das in 1 - 2 Stunden erzeugt werden kann, bringt eine sehr hohe Leuchtkraft und wird vor allem in Bayern eingesetzt.
Zu dieser Zeit wird mit allen möglichen Materialien experimentiert, Öle, Fette, Harze, sogar Abwässer und Waschwässer von Textilfabriken.
Dennoch scheint sich Kohle zur Vergasung durchzusetzen.
Dazu die Abbildungen einer Kohlevergasungsanlage, eines Gasometers und eines Gasbereitungsofens, Anlagen die sich dann in allen Städten in ganz Europa ausgebreitet haben.

Zusammengefasst: es dürfte auch schon im 19. Jahrhundert auf unseren Straßen in der Nacht nicht mehr dunkel gewesen sein.

Wolfgang (SAGEN.at)
 

Anhänge

  • Gasbereitungsofen.jpg
    Gasbereitungsofen.jpg
    434,3 KB · Aufrufe: 1
  • Gasometer.jpg
    Gasometer.jpg
    367,9 KB · Aufrufe: 1
  • Kohlevergasung.jpg
    Kohlevergasung.jpg
    464,8 KB · Aufrufe: 1
Wobei man berücksichtigen muss, dass die Vergasung von Kohle erst einmal nur dort stattfand, wo sie auch als Massengut aus den Kohlerevieren in großen Mengen hin transportiert werden konnte. Das war im 19. Jahrhundert nur mit der Eisenbahn oder in Regionen, die über schiffbare Flüsse von den Revieren aus erreichbar waren, per Schiff möglich. Man darf nicht vergessen: selbst Städte, wie Hameln und Rinteln bekamen erst in den 1870er Jahren einen Bahnanschluss. Da damals keine direkte Verbindung via Wasserstraßen zum Ruhrgebiet bestand, sah es mit dem Bezug von Kohle in großen Mengen dort mau aus. Man bekam gerade mal den Hausbrand gesichert. Die Kapazitäten von Pferdefuhrwerken im Güterverkehr waren dann doch sehr begrenzt. Dazu kam auch noch der Umstand, dass die Geschwindigkeiten wegen der meist sehr schlechten Straßenverhältnisse außerordentlich gering waren. Vielfach kamen die nur mit 3-4 km/h voran. Ich muss mal schauen - irgendwo habe ich noch historische Postkurse aus dem Weserbergland in der Zeit vor dem Eisenbahnbau, also vor 1875. Das ist absolut unglaublich, in was für einem Schneckentempo es da voran ging, wie lange man da unterwegs war, um von A nach B zu kommen. Nicht umsonst hatte da jede Pfarrei ein "Bischofszimmer", jeder Gutsbesitzer musste Übernachtungsmöglichkeiten für den Landrat oder seine Vertreter vorhalten. Denn Reisen in einen 20-30 km entfernten Ort waren quasi Weltreisen, die ohne Übernachtung nicht zu bewerkstelligen waren.)*
Das Thema fehlende Straßenbeleuchtung war in Rinteln und Hameln vor dem Bau der Eisenbahn ein großes Thema. Die Straßen beider Städte waren nach Sonnuntergang quasi vollkommene Dunkelheit gehüllt. Die erste Straßenbeleuchtung, die man dann einführte, wurde mit Petroleum betrieben. Das Petroleum konnte man per Schiff über die Weser beziehen.


-----
)* In der im LWL-Freilichtmuseum Detmold aufgebauten Pastorat ist so ein Bischofszimmer erhalten.
 
Zurück
Oben