Hallo Sonja,
ein bemerkenswerter Flohmarkt-Fund!
Das "Tödlein" ist in seriöser volkskundlicher Literatur an verschiedenen Stellen beschrieben. Ich bin zur Zeit unterwegs, kann also erst später die entsprechenden Literaturbelege raussuchen.
Was ich aber mit Sicherheit sagen kann, ist dass die "Expertin" Frau Annette Kinsky vom Dorotheum einen völlig haltlosen Blödsinn verzapft!!!
Das Zitat von Frau Kinsky lautet:
Katalogtext
Tödlein,
kleiner Holzsarg datiert 1873, abnehmbarer Deckel, stoffumwickelter Korpus, Totenkopf aus Gips, Kette mit Metallkreuz, Glasabdeckung mit Zinnverbund, Länge 51,5 cm, (Ki)
In den südtiroler Bergen war ein Abtransport der Toten in das Tal oft nicht möglich, daher wurde stellvertretend für den Toten das kleine "Tödlein" in das Tal gebracht. Es ist ein äußerst seltenes volkskundliches Objekt.
Expertin: Annette Kinsky
Abgesehen davon dass es rechtschreibtechnisch "Südtiroler Berge" lauten müsste, ist die Interpretation eine waghalsige freie Erfindung!
Warum soll man Tote in Südtirol nicht ins Tal bringen können? So ein Unfug!
Die Ersatzfunktion mit einer Puppe kann getrost ins Reich der Phantasie der Autorin, aber nicht als seriöse Dokumentation gewertet werden.
Offenkundig verwechselt die Autorin den tragischen Sachverhalt der
Totenaufbewahrung in Hintertux, das liegt aber genauso wie Mauern und Steinach in Tirol in Nordtirol. Die Ursache für diesen schrecklichen Terror liegt in religionspolitischen Gründen.
Für Südtirol ist mir keine solche Zwangsmassnahme bekannt. Es mag vielleicht in enorm strengen Wintern vorgekommen sein, dass man vielleicht einmal von einem abgelegenen Bergbauernhof wegen extremer Lawinengefahr ein paar Tage lang mit einem Sarg nicht ins Tal konnte - aber ganz sicher nicht systematisch oder politisch angeordnet und ganz sicher nicht anstelle des Verstorbenen mit einer Puppe!
Wenn man bei Lawinengefahr nicht ins Tal konnte, dann konnte man wirklich nicht ins Tal. Wenn die Lawinengefahr vorbei war, hat man auch den Sarg mit dem Verstorbenen mitgenommen.
Die überwiegende Mehrheit der Südtiroler Bevölkerung ist römisch-katholisch, im 19. Jahrhundert waren vermutlich fast alle Einwohner katholisch. Es ist für einen Katholiken im 19. Jahrhundert völlig undenkbar, außerhalb "geweihter Erde", also außerhalb eines Friedhofes begraben zu sein. Auch aus diesem Grund versuchte man unter allen Umständen, auf Bergbauernhöfen Verstorbene ins Tal zu Kirche und Friedhof zu bringen.
In Wirklichkeit handelt es sich beim Tödlein um einen SOUVENIRARTIKEL, der in gewerblichen Schnitzereien in dem für seine Schnitzereien bekannten Grödnertal systematisch hergestellt wurde! (Man kann im Grödnertal heute noch Schnitzwaren kaufen, diese kommen allerdings zum Großteil containerweise aus China).
Dazu schreibt etwa Leo Runggaldier im Artikel "Das Betrachtungssärglein - Eine alte Grödner Schnitzware" in: Der Schlern, 33. Jahrgang, 1959, S. 384:
Die Steffunes d'la Ròsules schnitzten kleine Särge, d.h. sogenannte Betrachtungssärglein. Sie nagelten kleine Brettchen von etwa 25 m Länge zu einem kleinen Sarg zusammen, und zwar in der Weise, dass man den Sarg öffnen und schließen und mit einem kleinen Häkchen zuriegeln konnte. Dieses Särglein wurde an der Außenseite fleckartig mit grauer, grüner und weißer Farbe bestrichen, um ihm ein modriges Aussehen zu verleihen.
Was war wohl in dem Särglein verborgen?
Von weit her, von Wolkenstein und St. Christina erhielten die Steffunes kleine, aus Holz geschnitzte und geisterhaft bemalte Totenköpfchen zugeschickt. Darüber legten sie zu Locken gerollte Bastfasern, so dass diese Totenköpfe einen schaurigen Anblick gewährten. Man ordnete sie in die kleinen Särge ein und legte dazu noch eigens geschnitzte vierkantige Stäbchen, die an einem Ende mit vier schwarzen Linien, die die Hände und Füße darstellen sollten, bemalt waren. Als Lendenschurz dienten eigens zugeschnittene Stoffe von dunkler Farbe. Hierauf formten sie aus weißem Wachs kleine verdrehte Würmchen und bemalten jedes von diesen an einem Ende mit roter Farbe. Diese legten sie um den Toten herum, der in grauer Holzwolle eingebettet lag. Oft wurde dazu noch eine kleine graue Maus oder eine kleine Kröte mit tiefschwarzen Augen beigegeben. Dies alles zusammen ergab einen gar erschütternden Anblick.
Diese Särglein dienten eben zur Betrachtung des Todes und fanden damals großen Absatz. In Mengen brachte man sie zu Verlegern, die sie meistens an Klöster verschickten oder sonst in den Handel brachten und von denen erworben werden konnten, die gerne in stiller Stunde und Zurückgezogenheit den Tod betrachteten.
(dem Artikel angefügt ist ein Foto des Särgleins, das mit den aktuellen Flohmarkt-Fotos ident ist)
Wir sehen also, es handelt sich beim "Tödlein" um einen Souvenirartikel.
Man sollte bei den phantasiebegabten Gutachten der Auktionshäuser wie das Dorotheum, die damit einen ebenso phantasiereichen Preis erzeugen, doch sehr vorsichtig sein...
Wolfgang (
SAGEN.at)