Und nun eine ausführliche volkskundliche Dokumentation zu den Werken:
Das Salpetersäurewerk in Patsch
An der Sill, eine dreiviertel Gehstunde unterhalb von Patsch und direkt unter der Europabrücke, befinden sich zwei industrielle Anlagen: Am linken Sillufer - auf Schönberger Gemeindegebiet - wurde in den Jahren 1901-03 von der Stadt Innsbruck das Elektrizitätswerk „Obere Sill“ gebaut. Es war damals das größte Wasserkraftwerk in der Monarchie.
Genau gegenüber auf Patscher Gemeindegrund wurde im Jahre 1905 eine Salpetersäurefabrik von der „Luftverwertungs AG“ errichtet. Sie stand unter der Leitung der Brüder H. und G. Pauling, die auch die Erfinder des im Sillwerk angewandten Verfahrens der Salpetersäureherstellung waren. In dieser Fabriksanlage wurde in Öfen Luft mit hoher Geschwindigkeit durch einen Lichtbogen geblasen. Die entstehenden heißen Stickoxydgase wurden in einem weiteren Verfahren zu Natriumnitrit und Salpetersäure verarbeitet. Die dafür benötigte Energie war mehr als reichlich vorhanden, da das E-Werk viel überschüssigen Strom produzierte.
In den Jahren von 1908 bis 1928 beschäftigte das Salpetersäurewerk 120 bis 150 Arbeiter, die vorwiegend von auswärts kamen und in Arbeiterwohnhäusern am Talgrund neben der Sill Unterkunft fanden. Patsch hatte um 1912 ca. 500 Einwohner. Leute aus dem Dorf bekamen auch hier Arbeit. Ein Wählerverzeichnis von 1912 gibt sehr genau Auskunft über die in Patsch gemeldeten Personen und deren Berufsbezeichnungen. Sie lassen sich von ihrer Wohnadresse her gut dem Salpetersäurewerk zuordnen. Zum Beispiel wohnte Dr. Wilhelm Millner, ein junger Chemiker, mit seiner Frau im „Sillwerk“. Andere Funktionen im Salpeterwerk waren: Stationsmeister, Werkmeister, Säuremeister, Säurearbeiter, Magazineur, Werkmeister, Schlosser, Schmied, Gießermeister, Former, Jurist, Elektriker, Maschinist, Monteur, Portier, Nachtwächter, Fabriksarbeiter und Hilfsarbeiter.
Das Produkt, die flüssige Salpetersäure, ein echtes Gefahrengut, wurde in großen Steingutbehältern (Tourilles) mit einem Fassungsvermögen von je 1.500 l gefüllt und so transportfähig gemacht. Diese Behälter wurden von der „Deutschen Steinzeugwarenfabrik für Canalisation & Chemische Industrie“ in Friedrichsfeld/Baden erzeugt. Vom Sillwerk aus führte ein Bahngleis zum 30 m höher gelegenen Verladegleis der Brennerbahn. Diese Anschlussstelle war nördlich des „Patscher Tunnels“.
Die Innsbrucker Nachrichten berichteten ausführlich von einem Brand in der Patscher Salpetersäurefabrik am 22. November 1909. Die konzentrierte Säure setzt ihre Umgebung in Brand, wenn sie ausfließt. Das war wohl passiert.
Technische Daten:
Es wurden 24 Öfen mit einer Gesamtleistung von 15.000 PS installiert. Das entspricht heute einer Leistung von 11,4 MW. (Anmerkung: Das Sillwerk hatte damals wie heute eine Leistung von rund 17 MW). Ein Ofen wurde mit 400 Kilowatt bei einer Ofenspannung von 4.000 Volt betrieben. (Ein Vergleich: Damit könnten 160 Ölradiatoren à 2,5 KW betrieben werden). Die Gase im Ofen erreichten eine Temperatur von 700-800 Grad Celsius. Die Ausbeute betrug 60 g HN03 pro Kilowattstunde. Das entsprach einer Produktionsmenge von 2,4 kg HN03 pro Ofen und Stunde. Salpetersäure ist einer der wichtigsten Grundstoffe der Chemie mit vielfältigen Anwendungen.
Die geschäftliche Entwicklung in den Krisenjahren 1923/24, der steigende Strompreis und die zunehmenden Importe setzten der Firma arg zu. Sie musste Konkurs anmelden und 1928 die Produktion für immer einstellen. 1929 wurde die Salpetersäurefabrik vom Planseewerk Reutte käuflich erworben und für ihre Zwecke umgebaut.
Die Österreichische Chemikerzeitung vom 1. 6. 1909 schreibt in einem Artikel über das Salpeterwerk in Patsch abschließend: ,,[...] ich war voll Bewunderung über die außerordentliche Arbeit, die dort unter der Leitung der Herren Pauling in den letzten Jahren geleistet worden ist. Galt es doch eine Reihe ganz neuer Aufgaben, darunter nicht zum mindesten solche elektrotechnischer Natur, zu lösen und betriebsfähig zu gestalten. Dass dies auf österreichischem Boden gelang, gereicht unserer elektrochemischen Industrie zur Ehre."
Das Salpetersäurewerk im Sillwerk in Patsch war damals ohne Zweifel ein „High-tech"- Betrieb!
Planseewerk Reutte in Patsch
Aus Erzählungen von ehemaligen Angestellten im Sillwerk: Ludwig Knoflach, Johann Braunegger, Alfons Knoflach.
Fabriksanlagen des Metallwerks Plansee im Sillwerk vor 1987.
Foto Plansee Reutte.
Die Geschichte des Planseewerkes in Reutte ist mit Patsch eng verknüpft. Es wurde 1921 von Dipl.-Ing. Dr. Paul Schwarzkopf als völlig neuartiges Unternehmen mit 20 Arbeitern in Reutte gegründet, das pulvermetallurgische Produkte entwickelte und herstellte. 1929 kaufte Schwarzkopf das in Konkurs gegangene Salpetersäurewerk im Patscher „Sillwerk“ und baute es für seine Zwecke von Grund auf um. Mittelpunkt war die große Werkshalle. Anreiz für die Wahl des Standortes war sicher das Angebot des günstigen Strombezuges vom gegenüberliegenden
E-Werk. Die Anlagen im „Planseewerk Sillwerk“ wie auch in Reutte dienten anfangs zu Versuchszwecken in der Pulvermetallurgie und zur Herstellung von Wolfram- und Molybdändrähten und von verschiedenen Legierungen. Von 1936 bis 1945 ging Plansee - und damit auch das Sillwerk - in den Besitz der Deutschen Edelstahlwerke AG über. Nach dem Krieg verwaltete das Land Tirol „Plansee“, bis Paul Schwarzkopf 1952 wieder alleiniger Besitzer wurde. Mit der Magnetproduktion in Zusammenarbeit mit den Böhlerwerken in Laa a. d. Thaya begann ein großer Aufschwung. Magnetstahl wurde zu verschiedensten Formen verarbeitet. Ebenso erfolgte die Herstellung von Hartmetallkugeln aus Tizit. In den folgenden Jahren stockte die Firma die Belegschaft im Sillwerk auf ca. 70 Arbeiter und Angestellte auf, sehr viele Männer und Frauen aus unserem Dorf fanden eine Anstellung. An die Arbeitsvorgänge in der großen Halle erinnert sich Alfons Knoflach noch ganz genau: „Das Rohmaterial (Wolframit, Molybdänoxyd) wurde in Reduktionsöfen bei 800-1.100° C mit Hilfe von Wasserstoff zu reinem Wolfram/Molybdän in Pulverform verarbeitet. Anschließend stellte man aus dem Pulver 4 Legierungen her und vermischte sie in einer Kugelmühle. Das Pulver wurde in eine Form gepresst, kam in Sinteröfen, um im Vakuum gebacken zu werden. Nach einer mechanischen Bearbeitung - im Sillwerk stand auch ein großer Hammer - kam das Produkt (Magnete) in die Härteöfen. Ich selbst musste abschließend die Magnete auf ihre Qualität prüfen."
Sinteröfen in der Werkshalle des Planseewerkes 1954.
Foto unbekannt.
In einem Nebengebäude war die Tischlerei, die Verpackungskisten herstellte. Zweimal in der Woche brachte ein LKW aus Reutte das Rohmaterial und holte die fertigen Produkte ab. Oftmals kamen auch Ingenieure aus Reutte ins Sillwerk, um Forschungen mit dem Lichtbogenschmelzen im Vakuum anzustellen. Sie mussten diese Arbeit in der Nacht machen, weil zusätzlicher Strom, umgeformt in Gleichstrom, im Sillwerk leichter verfügbar war als bei Tage. Dabei wurden auch Titan, Tantal und Zirkon hergestellt.
Doch dann kamen „dunkle Wolken“ über das Sillwerk. Johann Braunegger erzählt: „1958 kamen Wirtschaftsfachleute aus Japan ins Sillwerk, schauten sich alles an und machten Fotos. Wir ahnten Schlimmes, denn die gesamte Magnetproduktion sollte nach Japan verkauft werden. Tatsächlich wurden in der Folge verschiedene Anlagen und Öfen demontiert und die ersten Arbeiter ‚abgebaut‘. Doch Plansee investierte auch wieder: Die Gasanlage wurde automatisiert und neue Öfen installiert. Spikes für Autoreifen waren das neue Produkt. Wir fassten wieder Hoffnung. Bis zur Pension wird es jetzt reichen, dachten wir.“ Aber bald darauf kam das endgültige Aus für Plansee Sillwerk. Mit dem Ende des Jahres 1975 war die Einstellung des Betriebes Sillwerk Realität. Die Arbeiterschaft wurde vor die Wahl gestellt, sich entweder abfertigen zu lassen oder nach Reutte zu kommen. Nur zwei Angestellte aus Patsch machten von einer kurzfristigen Übersiedlung nach Reutte Gebrauch. Ein „Lebenstraum“ war geplatzt! Es gab viele Tränen!
Belegschaft des Planseewerkes im Jahr 1954.
Foto unbekannt.
Bis heute in Erinnerung geblieben ist die soziale Einstellung von Dr. Schwarzkopf zur Belegschaft: Ein Alpenrundflug 1954 mit einer Schweizer Maschine mit „Ehrenrunde“ über Patsch und Betriebsausflüge wurden von der Firma organisiert, zu Weihnachten gab es eine blaue Arbeitsmontur. Unvergesslich sind vor allem die legendären Kinderjausen für die Familien der Angestellten.
Quelle: Oswald Wörle, Gerhard Zimmer, Patsch. Geschichte, Beschreibung, Vision mit vielen Bildern und Anekdoten. Gemeinde Patsch 2009, S. 156 - 161.
Wolfgang (
SAGEN.at)