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Mit dem Studium unterwegs

Rudolf_K

Member
Hallo,

ich weiß nicht, ob es jemanden interesiert, aber ich wollte mal von einigen Dingen erzählen, die ich Zuge meines Archäologiestudiums erlebt habe. Ich studiere Vor- und Frühgeschichte in Frankfurt, da kommt man schon ganz schön rum, in den drei Jahren war ich bisher in Österreich, Frankreich, Dänemark, Portugal, Russland, Holland, Belgien und Rumänien. Meistens kommt man in Regionen, in die man als normaler Tourist nicht unbedingt kommen würde und sieht damit Seiten von Ländern, die Klischees bestätigen oder wiederlegen.

Das größte "Abenteuer" bisher war unsere sechswöchige Grabung in Westsibirien, mitten in der Steppe. Es war wirklich ein starker Kontrast zwischen dem "städtischen" Russland und dem platten Land. Gelandet sind wir in Ekaterinburg, nachts um 4 Uhr morgens. Nach dem Zoll wurden wir abgeholt, ich bin mit einem Russen in einem alten Jeep ohne Sicherheitsgurte gefahren, durch Birkenwälder, während ABBA im Radio lief. Am Stadtrand standen die Datschas, in der Ferne waren die Hochhäuser der Stadt zu sehen, die von der Architektur her eine Mischung aus Sci/Fi-Heften der 70ger Jahren und östlichen Baustil bildeten.
Es war Sonntag, weswegen wir noch die Zeit hatten, etwas von der Stadt zu sehen, u.a. die Kathedrale auf dem Blute, erbaut an der Stelle wo die Zarenfamilie erschossen wurde. Die Frauen mussten Röcke und Kopftuch anziehen (lagen zum Glück gleich neben der Tür bereit), im inneren der Kirche schien die Zeit stehen geblieben zu sein, Blattgold, Glöckchengebimmel und Weihrauch waren omnipräsent. Unser Hotel zählte zu den besten Adressen der Stadt, gegründet um 1920 hatten hier schon "Größen" wie Fidel Castro und Nikita Chruschow genächtigt.
Der nächste Tag machte dann für sechs Wochen Schluss mit fast allen Vorzügen der Zivilisation: Wir fuhren 600 km nach Süden, an die Grenze zu Kasastan. Stundenlang durch eine Landschaft die sich so gut wie nie änderte, Birkenwälder, kleine Dörfer, weite Ebenen.... irgendwann der Anfang der Steppe mit einer Raststätte, die einer der skurilsten Orte war an denen ich jemals war. Mitten im Nichts der mit einfachen Mitteln unternommene Versuch "westlich" zu wirken.
Die nächste Größere Stadt war Kartaly, einstiger Stationierungsort von nuklearen Mittelstreckenraketen, heute eine ziemlich runtergekommene Plattenbaustadt mit dem Fragezeichen wovon die Leute hier eigentlich leben.
Nach Stunden erreichten wir unser Lager und ich lernte mein Zelt kennen, die Unterkunft für die nächsten sechs Wochen. Gebadet wurde im Fluss, die sanitären Einrichtungen bestanden aus Plumsklos, gekocht wurde auf dem offenen Feuer. Das hört sich erstmal romantisch an, aber nach zwei Wochen fängt es schon an zu nerven. Einige der Russen kannte ich schon von der Ausgrabung im Vorjahr im Montafon (kein Vergleich, Dusche, Klo, Betten, grandioses Alpenpanorama, eigenes Auto, 4 Supermärkte im Tal, 10 Restaurants und Pizzaservice), aber der Empfang war sehr herzlich. Allgmein sind die Russen ein sehr gastfreundliches Volk und offen, keine Bemerkungen über Krieg oder Nazis, wie man das als Deutscher sonst oft im Ausland erlebt. Erstaunlich war, dass man mit Deutsch mehr anfangen konnte als mit Englisch. Aber ich habe auch ein paar Brocken Russisch gelernt, aber die Sprache hats wirklich in sich. Unser Koch war Ukrainer und fluchte auch immer auf das Russische.
Ich möchte hier mit ein paar Klischees aufräumen: Russen trinken wirklich viel, nicht alle, aber wenn die entsprechenden Personen in Fahrt kommen geht es schon recht wüßt her. Wichtig ist, dass man nach dem Trinken direkt etwas isst. Auf unseren Trinkspruch "Nastarovje" ernteten wir verwunderung, damit wusste keiner etwas anzufangen, Russen sagen dies nicht im Sinne von Prost (in einigen wenigen Regionen wohl schon), sondern bringen Toasts aus, sofern überhaupt etwas gesagt wird. Wir lernten auch, dass es ein übliches Zeichen ist sich gegen den Hals zu schnipsen um andere Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass jemand betrunken ist. Ich kam auch in den "Genuss" neben Wodka Samargon zu probieren (Schwarzgebrantner Schnaps mit 60 bis 80 %), die Auswirkungen sind eine andere Geschichte, die zu dem dümmsten Gehören, was mir jemals passiert ist. Man hatte uns vor dem Abflug auch gesagt, dass wenn man sich auf den Konsum von hartem Alkohol einlässt es nicht unbedingt gutgeheißen wird nur etwas am Glas zu nippen, wenn schon denn schon^^ Aber auch diese Exzessive Saufkultur scheint zum Glück rückläufig zu sein.
Gleich der erste Arbeitstag brachte eine Reihe von Abenteuern mit: Um 7 Uhr aufstehen, obwohl Hochsommer war es kalt. Ähnlich wie in der Wüste kann es in der Steppe nachts richtig kalt werden, am Tag aber auch unerträglich heiß. Zum Frühstück gab es Kascha, einen Brei aus Buchweizen und in unserem Fall Kondensmilch mit Wasser. Mein Ding war das nicht, aber was will man machen wenn es nichts anderes gibt. Die Ausgrabung war ca. 2 km vom Lager entfernt, ich und Kommulitone wurden beauftragt das Vermessungsequipment im Auto zu begleiten. Da es nur eine Brücke über den Fluss gab mussten wir ewig fahren, nach 20 min die erste Panne: unser Unimokähnlicher Wagen blieb liegen, der Fahrer konnte weder Englisch noch Russisch.... Handyempfang... fehlanzeige... Das Problem wurde gelöst, es ging weiter, bis der Fahrer eine ca. 1,5 m tiefe Bodensenke in der Piste "übersah", das Auto abhob, wir durch den Innenraum flogen (wer brauch schon Gurte oder fest verschraubte Sitze?) und nach 200 m das Rad abbrach... Ich blieb beim Auto, mein Freund und der Fahrer gingen Hilfe holen. Was macht man nun, mitten in der Kasachischen Steppe, mitten im Nichts mit elektronischem Equipment im Wert von 40.000 € und einem kaputten Auto? Naja ich habe mich erstmal Schlafen gelegt und gehofft, dass keine Kosacken des Weges kommen. Achja, man kann übrigns Stille wirklich hören, nur Wind und Grillengezirpe... da kommt man sich schon einsam vor, in einer Landschaft wo man Kilometerweit gucken kann ohne Orientierung. Ich bin von Haus aus mehr so der Waldmensch, aber Bäume... in einer nicht abzuschätzenden Entfernung war nur die Allee die in Sovietzeiten da gepflanzt worden war.
Irgendwann kamen dann die anderen und wir holten das Zeug zur Ausgrabung. Eigentlich wäre damit das Abenteuerprogramm schon gefüllt für den Tag, aber am Nachmittag zog noch ein gewaltiges Gewitter auf und glaubt mir, es ist ein Schei*s gefühl mit einem Haufen Eisenwerkzeugen und Magnetspuhlen am Hang zu stehen, in 600 m der Fluss, der nächste Baum ist ein Strich am Horizont, während Taubenei große Hagelkörner auf einem runterprasseln und das Gewitter über einem Donnert...
Die Zelte blieben zum Glück stehen, und ein gutes hatte es, wir durften früher Feierabend machen. Unser Professor scheuchte uns in trockene Klamotten, der russische gab seinen Wodka.
Es gibt noch viel zu erzählen und wenn gewünscht kann ich noch einges Berichten, von Goldsuchern, Fernsehteams, dem Bürgermeister von Vaschavka, dem Laufen im fast 2m hohem Schilf, nächtliche Sauftouren, Geheimdienst, Nächten am Lagerfeuer mit dem tollsten Sternenhimmel den ich jemals gesehen habe, einem Botschaftsempfang usw.

Nach sechs Wochen war es wirklich genial wieder in der Stadt zu sein und nach dreimal heiß duschen war das Wasser auch nicht mehr braun. Zurück in Frankfurt war es schon etwas komisch, ein Stapel Post, hunderte Emails und ein Land voller Wohlstand, wo die Stange Zigaretten nicht 7 € und der Wodka nicht 1,5 kostet, wo Leute sich über die schlimmen Umstände von Hartz 4 beschweren... Es ist schon etwas Anderes, wenn man zerlumpte sechsjährige Kinder eine Rinderherde auf dem Pferd hüten sieht und sich dann Leute darüber aufregen, dass sie von Hartz 4 nicht ins Theater gehen können...
Fazit ist, dass ich nun viel besser die Vorzüge der Zivilastion zu schätzen weiß und es viel Verständlicher ist, wie der Alltag früher ohne Kühlschrank funktioniert hat, mit einem Mal tauchen Probleme auf, die man bisher nicht wirklich beachtet hat, die aber dann elementar wurden.

Wen das ganze noch weiter interesiert, wir kamen mit der Sache nicht nur ins Russische Fernsehen, sondern auch ins ZDF:

(Admin: externer Link existiert nicht mehr)

Traurig ist nur, dass bei der diesjährigen Kampange einer meiner Kommulitonen auf der Fahrt zur Ausgrabung verstorben ist, mit 25, von einem auf dem Moment Tod. Verstehen können wir es bis heute nicht.
 
Ach hier sind auch noch ein paar Fotos:
 

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oh wow. das klingt aber mal ganz anders, als alles, was ich bisher so mibekommen habe, von archäologie studenten. eine bekannte von mir macht es auch, aber so weit ich es verstanden habe, ist sie über die deutschen grenzen noch nicht hinweg gekommen. das scheint ja wirklich eine einschlägige erfahrung gewesen zu sein.
wenn ich mal darüber nachdenke, dass ich mich aufrege, nur weil ich in der türkei nicht diese bestimmten drogerieartikel bekomme, die ich brauch, scheint mir so ein "abgeschotteter", ländlicher trip auch mal angebracht. aber dazu muss ich auf jeden fall mehr als nur meinen inneren schweinehund besiegen!
aber in meinem nächsten jahr wird sich eh so einiges ändern. vielleicht mach ich zwischendurch auch mal was aussteiger-mäßiges. denke in der letzten zeit ziemlich viel darüber nach!
aber auf jeden fall mal herzlichen glückwunsch zu deinem studium.
hast du schon bahnbrechendes ausgegraben?
 
Super interessanter Bericht! - Ich nehme an: Studium in Frankfurt am Main?
Nicht vergessen: wir haben noch Frankfurt an der Oder. Wenn es mehrere
Orte mit identischem Namen gibt, bitte immer den "Zusatz". - Bin gespannt
auf mehr! Viele Grüße von Ulrike
P.S. Diese zdf Sendungen gehören zu den wenigen, die ich mit meinem Mann
gemeinsam schaue. Sonst gucken wir oft getrennt! Zum Glück geht dies bei
2 Fernsehgeräten. Ich bin total kein Sportfan!
 
Ich mein Frankfurt am Main. Wir haben uns irgendwann über einen einfachen Schokoriegel gefreut, wenn man mal ins 8 km entfernte dorf gekommen ist, wo es sogar Eis gab, dass allerdings schon mal aufgetaut war^^
Wir haben beim Schokoriegelkaufen ua. die Aufmerksamkeit aller Menschen im Laden zugezogen. Es war so ein richtiger Tante Emmaladen, wo es alles gab (oder auch nicht), einer von uns hat für alle Schokoriegel gekauft, was 1000 Rubel waren (ca. 25 €, für je 5 Mars, Snickers und noch etwas anderes Zeug), da haben alle Leute angefangen zu Lachen, die konnten wahrscheinlich nicht fassen, dass Deutsche, die Aussehen wie Penner (ohne Dusche, mit Steppenwind und Erde sieht man auch nach dem Bad im Fluss etwas gammelig aus, vor allem wenn man grad von der Arbeit kommt) einen halben Monatslohn für Schokolade ausgeben können.
Wieder zurück in Ekaterinburg hatten wir einen Empfang im Deutschen Generalkonsulat, das war auch ganz spannend. Es war auch schön in einer Millionenstadt ohne McDonalds zu sein. Befremdlich war, dass nach dem Geburtstag der Stadt (großes Volksfest) an mehreren Ecken die Blutlachen mit dem Schlauch weggespühlt wurden. Ebenso wie dass Leute mit der Kalaschnikow in der Raststätte sitzen.

Aber es war wirklich eine tolle Erfahrung, ein Land so kennenzulernen, das wirklich ganz anders als bei uns ist, aber es trotzdem viele Gemeinsamkeiten gibt.

Dieses Jahr war ich in Rumänien ausgraben, das war schon etwas angenehmer, wir haben in einem Rohbau gewohnt, es gab eine improvisierte Dusche aus einem alten Ölfass und frisches Wasser aus dem Brunnen. Dafür dass Rumänien auch in der EU ist war es allerdings ziemlich erschreckend, vor allem wenn man wusste, dass das Banat noch die entwickelste Region in Rumänien ist. Wir sind von Frankfurt aus mit dem Zug gefahren, insgesamt 15 Stunden, über München, Salzburg, Wien, Budapest bis nach Arad.
Die Rumänen waren auch nett, aber vieles an dem Film Borat ist doch weniger ein Klischee als man meinen möchte, leider. Der Hass gegen Zigeuner, die Unordnung, der Aberglaube, die Armut, massive Prostitution.... Wir wohnten in einem kleinen Dorf, da hat man sich noch richtig vorstellen können, wie das Leben bei uns vor 100 Jahren war: unbefestigte Straßen, die Dorfkneipe, Kirmes, Gänse auf der Straße, Landwirtschaft....
Aber das ist eine weitere Geschichte. Vor zwei Jahren waren wir im Montafon, das war wirklich Luxus.
Wirklich was spekatuläres habe ich persönlich noch nicht gefunden, Scherben, Knochen, Feuersteinartefakte... Aber Archäologie ist auch wesentlich weniger spannend als man oft glaubt, das meiste sind nur Scherben, Knochen und Erdverfärbungen.
 
Ich finde Archäologie sehr spannend, auch die kleinsten Funde sind doch
"Puzzleteile der Geschichte". Einen großen "Wurf" kann nicht jeder machen,
aber vielleicht gelingt es Dir noch? Wahrscheinlich spielt auch das "Sponsoring"
eine Rolle, denn überall (z.B. auch unser örtl. Heimatmuseum) kommt der
Rotstift zum Einsatz. Auch in Westfalen (wo ich wohne) wäre noch einiges
auszugraben! - Viele Grüße von Ulrike
 
oh mann.
was du nicht alles schon - allein durch dein studium - zu erzählen hast. genau so sollte es sein. unglaublich, wie viele möglichkeiten euch geboten werden. schön zu hören, dass es an so mancher deutschen hochschule anders zu geht, als das was ich so in meinem umfeld mitbekomme. hier läuft alles eher immer immer mehr den bach hinunter!

liegt es daran, dass du ganz besonders begabt bist - dir die auslands-ausgrabungen quasi verdient hast - oder geht es jedem archäologiestudenten in ffm so? das ist einfach kein vergleich zu dem, was man in köln hat.

so wie ich hier gerade ins schwärmen komme, steht aber schon mal richtig fest, dass im nächsten jahr auf gar keinen fall ne pauschalreise gebucht wird (das mach ich sowieso so gut wie nie!)

so wie du rumänien beschreibst, kann ich es genau so vor meinem inneren auge vorstellen. und hatte auch genau so ein bild im kopf vom europa im späten 19. jahrhundert.

da kriegt man richtig lust auf abenteuer!
chapeau!
 
naja besonders begabt bin ich nicht, unser professor hat eben den richtigen riecher für gute projekte. aber wir sind auch die letzte uni in deutschland, an der man in diesem semester noch mit dem magister in vor- und frühgeschichte anfangen konnte, obwohl seit 2010 schon der bachelor hätte pflicht sein sollen, aber damit ist es nun auch vorbei :-(
 
- glück gehabt
- props an deine uni für's durchsetzungsvermögen
- bin auch noch magister und bin sowas von froh darüber!

schön für dich, dass du so ein gutes studium hast! ich wünsche dir allen erfolg, den man haben kann! =D
 
hui, das klingt spannend! da wär ich gern dabei gewesen. :-)))
danke fürs erzählen, du solltest bücher schreiben über deine erlebnisse!
(oder hast du das schon getan? dann lass es mich wissen, ich lese lieber als fern zu sehen und deine schreibweise ist auch gut! )

herzliche grüße, sonja (die nie studiert hat und nie was ausgegraben hat aber einen kuh-zahn aus der hallstadt-zeit zu hause hat)
 
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