Elfie
Active member
DIE VERSCHWUNDENE SCHWESTER
Zum vieltausendsten Mal öffnet Lisa ihre Geldbörse, deren äußere Erscheinung in all den Jahren wohl einige Male gewechselt hat und sogar die Währung ist eine andere geworden.
Eines aber blieb: das Foto.
Je nach Beschaffenheit des Portemonnaies steckte es unsichtbar in einem Fach, dann wieder im vorgesehenen Rahmen – genau richtig für ein Passbild. Zurzeit war es geheimnisvoll hinter dunklem Netz verborgen, das wie ein Schleier Einblick gewährte.
Eigenartig – denkt Lisa.
Wie haben sich die Dinge doch verdreht in diesen beinahe vier Jahrzehnten.
Während der gemeinsamen Zeit hörte sie immer wieder das Gerede von wegen Schwestern. Die Leute im Dorf wollten schmeicheln oder nur einfach irgendwas sagen. Obwohl – jeder hätte ihr die ältere Schwester abgenommen. Sie war eine attraktive Frau, jugendlich im Temperament, energisch, spontan und sie lachte gern.
Zuletzt war es eine schwierige Beziehung. Die Pubertät der Einen prallte auf die Lebenskrise der Anderen. Und das blieb so.
Plötzlich glaubt Lisa sich in einer Zeitmaschine.
Immer deutlicher werden die Bilder, die Emotionen kommen wieder. Sie schaut auf das Foto und in das Gesicht mit dem angedeuteten Lächeln. So war man sie nicht gewohnt. Einen fremden Zug attestierte ihr eine Vertraute damals und sie hatte Recht. Es war ein gutes Bild, aber kein authentisches.
Doch die Bilder im Kopf blieben. Alles ist da: das Entsetzen, die Erstarrung, die Hilflosigkeit. In Abständen suchte Lisa neue Zugänge zum Geschehenen, dazwischen Vergessen.
Und jetzt?
Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, fragt sie stumm das Bild. Lässt dich einfach totfahren während ich auf diesem Schülertreffen bin! Bist einfach weg!
Wie deutlich ich noch alles sehe. Stehen vor der Kiste, ich weiß, da bist du drin. Begreifen kann ich es nicht. Alle Rituale sind absolviert. Die Pfarrerlitanei, den Sarg versenken.
Jetzt heulen – die Mutter wird vergraben!
Aber im Hinterkopf sagt etwas: lass dich nicht verscheißern. Warum sollte sie da drin sein? Wir haben uns zu gewunken da am Gartenzaun vor fünf Tagen. Ein schöner Herbsttag, ich war am Wegfahren, während du für die alte Frau den Garten umgegraben hast. Später sollte noch Einer mit der Kreissäge kommen, dem würdest du die Holzscheite zureichen, damit war hier die letzte Arbeit für den Winter getan.
Und zu Mittag, da hast du auf der Veranda gesessen und irgendwie blicklos in die Ferne geschaut. Dann warst du mit einem Seufzer aufgestanden und hast: “naja, dann geh ich halt“ gesagt. „An die Arbeit“ hast du gemeint und sonst gar nichts!
Doch danach einfach verschwinden?
Das war keine Art, so geht man nicht mit seinem Kind um, auch wenn es oft genug nervt. Wenigstens sagen hättest du was können, ich hätte es verstanden. Weg vom Dorfmief, dem dummen Gerede. Von der moralinsauren Genossenschaft, die über alles informiert war und was sie nicht wusste, das log sie dazu. Wer würde da nicht weg wollen?
Jahrelang hatte Lisa diese Träume.
Suchen, fragen. Wo bist du, weshalb gingst du, warum ohne ein Wort…
Immer noch Bilder von der Wohnung, die es längst nicht mehr gab. Spuren von Anwesenheit, aber kein Wiederfinden. Manchmal eine Frau von hinten, im Weggehen. Abweisend, unerreichbar. Oder von Ferne mit dem Zweifel: ist sie das?
Nur ein einziges Mal war Versöhnung und Harmonie. Sie gingen gemeinsam über die Wiese einer Anhöhe. Lisa zeigte auf die Straße hinunter und sagte: „da war es doch, da hat es dich erwischt“. „Und dich da“ sagte die Mutter und wies auf ein blühendes Apfelbäumchen. Dann gingen sie gemeinsam weiter.
Sah Lisa in diesem Traum ihr Gesicht? Sie weiß es nicht mehr.
Irgendwann war da eine Reportage über Chile, Gespräche mit Angehörigen von Verschleppten , die nie wiederkamen. Sie alle sahen die Vermissten in ihren Träumen ohne Gesicht.
Ein Trauma, wenn man sich nicht verabschieden kann, so der Kommentar.
Seit Langem gibt es kaum noch Träume und wenn, dann ist alles verdreht.
Da ist eine Frau, die Lisas Tochter sein könnte.
Alles beim Alten, versäumt hast du nix – lächelt Lisa das Foto an.
Aber eines würde dir sicher gefallen: jetzt nämlich bist DU die jüngere Schwester.
Ganz eindeutig!
Nein – du kannst ruhig in der Börse bleiben, weiter den Platz mit einem anderen Verschwundenen teilen, wie du das seit einem Duzend Jahren tust.
Ob sich das ändert, wenn ich einmal hören sollte: eine hübsche Tochter haben sie ?
Wohl kaum, irgendwie waren wir doch immer auf einander stolz.
Zum vieltausendsten Mal öffnet Lisa ihre Geldbörse, deren äußere Erscheinung in all den Jahren wohl einige Male gewechselt hat und sogar die Währung ist eine andere geworden.
Eines aber blieb: das Foto.
Je nach Beschaffenheit des Portemonnaies steckte es unsichtbar in einem Fach, dann wieder im vorgesehenen Rahmen – genau richtig für ein Passbild. Zurzeit war es geheimnisvoll hinter dunklem Netz verborgen, das wie ein Schleier Einblick gewährte.
Eigenartig – denkt Lisa.
Wie haben sich die Dinge doch verdreht in diesen beinahe vier Jahrzehnten.
Während der gemeinsamen Zeit hörte sie immer wieder das Gerede von wegen Schwestern. Die Leute im Dorf wollten schmeicheln oder nur einfach irgendwas sagen. Obwohl – jeder hätte ihr die ältere Schwester abgenommen. Sie war eine attraktive Frau, jugendlich im Temperament, energisch, spontan und sie lachte gern.
Zuletzt war es eine schwierige Beziehung. Die Pubertät der Einen prallte auf die Lebenskrise der Anderen. Und das blieb so.
Plötzlich glaubt Lisa sich in einer Zeitmaschine.
Immer deutlicher werden die Bilder, die Emotionen kommen wieder. Sie schaut auf das Foto und in das Gesicht mit dem angedeuteten Lächeln. So war man sie nicht gewohnt. Einen fremden Zug attestierte ihr eine Vertraute damals und sie hatte Recht. Es war ein gutes Bild, aber kein authentisches.
Doch die Bilder im Kopf blieben. Alles ist da: das Entsetzen, die Erstarrung, die Hilflosigkeit. In Abständen suchte Lisa neue Zugänge zum Geschehenen, dazwischen Vergessen.
Und jetzt?
Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, fragt sie stumm das Bild. Lässt dich einfach totfahren während ich auf diesem Schülertreffen bin! Bist einfach weg!
Wie deutlich ich noch alles sehe. Stehen vor der Kiste, ich weiß, da bist du drin. Begreifen kann ich es nicht. Alle Rituale sind absolviert. Die Pfarrerlitanei, den Sarg versenken.
Jetzt heulen – die Mutter wird vergraben!
Aber im Hinterkopf sagt etwas: lass dich nicht verscheißern. Warum sollte sie da drin sein? Wir haben uns zu gewunken da am Gartenzaun vor fünf Tagen. Ein schöner Herbsttag, ich war am Wegfahren, während du für die alte Frau den Garten umgegraben hast. Später sollte noch Einer mit der Kreissäge kommen, dem würdest du die Holzscheite zureichen, damit war hier die letzte Arbeit für den Winter getan.
Und zu Mittag, da hast du auf der Veranda gesessen und irgendwie blicklos in die Ferne geschaut. Dann warst du mit einem Seufzer aufgestanden und hast: “naja, dann geh ich halt“ gesagt. „An die Arbeit“ hast du gemeint und sonst gar nichts!
Doch danach einfach verschwinden?
Das war keine Art, so geht man nicht mit seinem Kind um, auch wenn es oft genug nervt. Wenigstens sagen hättest du was können, ich hätte es verstanden. Weg vom Dorfmief, dem dummen Gerede. Von der moralinsauren Genossenschaft, die über alles informiert war und was sie nicht wusste, das log sie dazu. Wer würde da nicht weg wollen?
Jahrelang hatte Lisa diese Träume.
Suchen, fragen. Wo bist du, weshalb gingst du, warum ohne ein Wort…
Immer noch Bilder von der Wohnung, die es längst nicht mehr gab. Spuren von Anwesenheit, aber kein Wiederfinden. Manchmal eine Frau von hinten, im Weggehen. Abweisend, unerreichbar. Oder von Ferne mit dem Zweifel: ist sie das?
Nur ein einziges Mal war Versöhnung und Harmonie. Sie gingen gemeinsam über die Wiese einer Anhöhe. Lisa zeigte auf die Straße hinunter und sagte: „da war es doch, da hat es dich erwischt“. „Und dich da“ sagte die Mutter und wies auf ein blühendes Apfelbäumchen. Dann gingen sie gemeinsam weiter.
Sah Lisa in diesem Traum ihr Gesicht? Sie weiß es nicht mehr.
Irgendwann war da eine Reportage über Chile, Gespräche mit Angehörigen von Verschleppten , die nie wiederkamen. Sie alle sahen die Vermissten in ihren Träumen ohne Gesicht.
Ein Trauma, wenn man sich nicht verabschieden kann, so der Kommentar.
Seit Langem gibt es kaum noch Träume und wenn, dann ist alles verdreht.
Da ist eine Frau, die Lisas Tochter sein könnte.
Alles beim Alten, versäumt hast du nix – lächelt Lisa das Foto an.
Aber eines würde dir sicher gefallen: jetzt nämlich bist DU die jüngere Schwester.
Ganz eindeutig!
Nein – du kannst ruhig in der Börse bleiben, weiter den Platz mit einem anderen Verschwundenen teilen, wie du das seit einem Duzend Jahren tust.
Ob sich das ändert, wenn ich einmal hören sollte: eine hübsche Tochter haben sie ?
Wohl kaum, irgendwie waren wir doch immer auf einander stolz.