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Der Flug über den Ärmelkanal

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Der Flug über den Ärmelkanal, Wien, 26. Juli 1909
„Ein französischer Aviatiker, Blériot, hat gestern von Calais aus den Ärmelkanal überquert und ist nach kurzer Fahrt durch die Lüfte auf englischem Boden gelandet. Wir wissen heute noch nicht, welche Bedeutung diesem kühnen Fluge zuzumessen ist, er wird jedoch zweifellos nicht nur in der Entwicklungsgeschichte der Aeronautik als ein Geschehnis verzeichnet werden, das einen großen Erfolg und einen sinnfällig vor Augen tretenden Fortschritt in sich begreift, sondern auch in der Geschichte der menschlichen Zivilisation vermerkt werden.​
Ob mit dem Fluge Blériots eine neue Ära der Aviatik beginnen, ob der wissenschaftliche Streit zwischen den Vertretern der beiden großen Richtungen, die sich die Eroberung der Luft zum Ziele gesetzt haben, neue Impulse erhalten wird, steht noch dahin. Eine besondere Bedeutung gewinnt der Blériotsche Flug jedenfalls durch die Lokalität, innerhalb welcher er sich vollzogen hat. Die Engländer haben die großen Fortschritte, die auf dem Kontinent in der Luftschifffahrt erzielt wurden, mit scheu ängstlicher Aufmerksamkeit verfolgt und insbesondere in den „Zeppelins“ das Werkzeug erblickt, mit Hilfe dessen es einer fremden Macht gelingen könnte, die Schranke, welche die Insel vom Festlande trennt und ihren einzigen Schutz bedeutet, zu durchbrechen; sie haben die gelungenen Flüge der Deutschen und Franzosen stets unter dem engen Gesichtswinkel der Möglichkeit einer Invasion betrachtet, des Einbruchs Fremder in ihr durch die mächtigste Flotte verteidigtes Territorium. In langen Kriegen und mit ungeheuren Geldopfern hat das verhältnismäßig kleine Inselland sich eine schwimmende Wehr zur See geschaffen, die Oberherrschaft auf allen Meeren an sich gerissen mit dem unbeugsamen Wollen, diese Übermacht stets aufrecht zuerhalten und zu behaupten. Und als die ersten Nachrichten über die gelungenen Fahrten Zeppelins über den Kanal drangen, ging durch ganz England der Ruf nach Aufstellung eines aeronautischen Zweimächtestandards, nach Schaffung einer jeder möglichen Koalition überlegenen Luftflotte, nach Herstellung einer Art Oberherrschaft in den Lüften. In zahlreichen Flugschriften und Broschüren wurden diese Gedanken in allen möglichen Variationen ausgedrückt, Gedanken, von denen man nur sagen kann, dass sie einem eigentümlichen politischen Spleen entspringen. Wie groß muss der Eindruck des gelungenen Fluges Blériots sein, der mitten in diese Stimmungen tritt und der Invasionsfurcht neue Nahrung gibt! Die Invasion hat sich also bereits vollzogen, diesmal allerdings nur eine französische. Die Landung Blériots in Dover ist ein Ereignis, wie es seinerseits die Landung des ersten Römers auf der britischen Insel war.​
Blériot hat die Tür aufgestoßen, die in das Dunkel der Zukunft führt, und man spürt, dass sich hier ein weiter Raum öffnet, man sieht Möglichkeiten, die, heute noch im Dämmer liegend, morgen vielleicht aus dem Unwissen, Unklaren heraustreten und Altes stürzend Neues schaffen. Blériot hat in 23 Minuten den Kanal überquert, in dieser Zeit 33 Kilometer zurückgelegt, was einer Geschwindigkeit von mehr als 1 ¼ Kilometern in der Minute oder von 80 Kilometern in der Stunde entspricht; sein Flug überbot die Geschwindigkeit des schnellsten Dampfers; der Torpedobootzerstörer, der Blériot begleitete, blieb weit zurück. Solche Geschwindigkeiten werden von Kriegsschiffen in absehbarer Zeit nicht erreicht werden. Damit fällt aber auch die Möglichkeit, den durch die Lüfte segelnden Fahrern auf dem Wasser zu folgen, und das Problem der Verteidigung Englands wird somit um eine neue Schwierigkeit bereichert. Seit mehreren Jahren und unter den Nachwirkungen des Feldzuges in Südafrika haben einflussreiche Männer in England auf die Notwendigkeit hingewiesen, neben der konstanten Entwicklung der Flotte auch das Landheer den modernen Forderungen gemäß auszubauen; erst kürzlich hat Lord Roberts im Oberhause den Antrag auf Einführung der allgemeinen Wehrpflicht gestellt, dank welcher England über eine Armee von über einer Million kriegsgeschulter Soldaten verfügen soll; der Umstand, dass sich für diesen Antrag eine ganz außergewöhnlich starke Minorität fand, lässt erkennen, dass die Partei der Blue Water-School, die in der Aufrechterhaltung des Two Powers-Standard die beste Gewähr für Erhaltung und Erweiterung der englischen Weltherrschaft und den sichersten Schutz für das meerumspülte Inselreich erblickt, nicht mehr die allgemeine Anhängerschaft besitzt, die sie vordem aufzuweisen hatte. Die großen Erfolge, die in allerletzter Zeit auf dem Gebiete der Luftschifffahrt erreicht wurden, am letzten Ende der gelungene Flug Blériots , werden jenen Politikern, die für die Modernisierung der Landesverteidigung eintreten und neben einer alle Meere beherrschenden Flotte auch eine modern organisierte, mit starken Friedenscadres versehene Landarmee für den Schutz britischer Interessen als unentbehrlich erachten, neues Beweismaterial zuführen. Gegen Luftschiffe, die in großer Höhe vom Festland herankommen, können die Kriegsschiffe mit ihren heutigen Mitteln nicht ankämpfen; ihre Geschosse erreichen sie nicht. An eine Invasion von Truppen, die in Luftschiffen über das Meer gebracht werden, ist heute allerdings noch nicht zu denken, da der Fassungsraum selbst der größten Luftfahrzeuge zur Aufnahme der für eine Invasion nötigen Militärmacht zu gering ist und es ausgeschlossen ist, Tausende von solchen Fahrzeugen zu beschaffen. Aber schon die Möglichkeit, hoch in den Lüften und außerhalb des Wirkungsbereiches der Geschütze der Riesenschlachtschiffe englischen Boden zu erreichen, wird neue Erregungen und Befürchtungen verursachen und das Verlangen nach einem Landheer verstärken, das befähigt ist, einem in englisches Gebiet eingedrungenen Gegner die Spitze zu bieten. Die nächste Folge der harmlosen Luftreise Blériots wird zweifellos die Einstellung von Ballongeschützen auf allen großen Schiffen der Flotte sein; es ist auch nicht ausgeschlossen, dass die Admiralität nunmehr, den wiederholt geäußerten Wünschen Folge gebend, einen neuen Kriegsschifftyp, das Ballonbekämpfungsschiff, konstruieren wird.​
Es würde zu weit führen, all‘ die Möglichkeiten, die von den schreckhaften Geistern aus dem Fluge Blériots abgeleitet werden, auszuspinnen. Es ist wiederholt und eindringlich von den berufensten Stellen erklärt worden, dass Deutschland sich nicht mit dem Gedanken trage, England zu bekriegen, dass sonach die Furcht vor einer Invasion, soweit Deutschland in Betracht kommt, eine gänzlich unbegründete ist und auf einer Verkennung deutscher Wesensart beruht. Trotz alledem wird der Flug Blériots gewiss neues Material zur Invasionsfrage liefern; wird den bleibenden, kaum mehr verwischbaren Eindruck hinterlassen, dass die stolze Kriegsflotte, die England sein eigen nennt und die eine Macht repräsentiert, wie sie noch kein Staat besaß, ein Werkzeug militär-maritimer Gewalt, von dessen ungeheuren Kräften zur Zeit auf der Themse ein kleines Abbild zu sehen ist, nicht mehr genüge, den heimatlichen Boden gegenüber allen Zwischenfällen, die heute noch im Schoße einer ungewissen Zukunft ruhen, zu schützen und zu verteidigen.​
Die Stunde, da Blériot in majestätischem Fluge hoch über den in der Themse zur Flottenschau verankerten Kriegsschiffen landeinwärts zog, bedeutet vielleicht den Beginn einer neuen Ära in der militärischen und maritimen Politik des vereinigten Königreichs. Vierzig Jahre lang haben die Engländer den Plan eines Tunnels, der unter dem Kanal nach Frankreich hinüber führen sollte, Widerstand geleistet, um den Verkehr zu zwingen, auf dem Wasserwege zu bleiben. Nun wird dem Wasser ausgewichen, nicht unterirdisch, sondern durch die Luft.“​
Quelle: Neue Freie Presse. Nachmittagblatt. Nr. 16138. Wien, Montag, dem 26. Juli 1909

Dank an Harry für den Hinweis!

Dieser Artikel, der vor hundert Jahren geschrieben wurde, enthält natürlich eine unübersehbare Schadenfreude gegenüber England, in das der Franzose Louis Blériot (1872 – 1936) als erster Mensch in einem Flugzeug über den Ärmelkanal am 25. Juli 1909 geflogen ist. Neben dem Geldpreis von 1.000 Englischen Pfund wurde Blériot durch die nun folgenden Bestellungen seiner „Blériot XI“ zum ersten kommerziellen Flugzeughersteller.

Es handelte sich bei der „Bleriot XI“ um einen Eindecker mit einem Rumpf aus Eschenholz, Tragflächen mit gummiertem Leinen ummantelt, Spannweite 7,80 Meter und dünnen Drähten stabilisiert, einem Fahrwerk aus zwei Fahrradrädern und einem kleinen 3-Zylinder-Anzani-Motor mit 25 PS. Das Fluggerät war 7,05 Meter lang.

Der Flug dauerte am 25. Juli 1909 von 4.41 Uhr bis 5.19 Uhr.

Ein Jahr später erreichte Blériot als erster Pilot eine Geschwindigkeit von mehr als 100 km/h.

"Bleriot hat damals als Erster bewiesen, dass Flugzeuge kein Hobby von Spinnern sind", sagt Francois Mathias, Experte am Pariser Musee des Arts et Metiers. Wenn der Pionier nicht vor hundert Jahren die Realisierbarkeit des Fliegens demonstriert hätte, hätte Neil Armstrong nicht 60 Jahre später seinen Fuß auf den Mond gesetzt, ist er sicher.

Als Charles Lindbergh am 21. Mai 1927 als erster Mensch den Atlantik überquerte und in Le Bourget bei Paris landete, ließ er sich zuerst von Bleriot umarmen und beglückwünschen. Er würde gleich morgen in seinem eigenen Flugzeug zurück über den Atlantik fliegen, soll er gesagt haben. "Aber in ihrem Bleriot XI über den Kanal, das würde ich nicht machen."

Quelle ergänzende Informationen: ORF, 25. Juli 2009 (externer Linkt existiert nicht mehr)


Wolfgang (SAGEN.at)
 
Blériot überquerte nicht nur als erster den Ärmelkanal und bewies damit, dass Flugzeuge durchaus in der Lage sind, große Entfernungen zurückzulegen, er war auch der Begründer der Flugzeugindustrie. Er baute in weiterer Folge mehrere hundert Flugzeuge, die er auch verkaufte.

In der Freien Presse vom 26. Juli 1909 zeigt der Autor, wenn man von der politischen Stimmung absieht, erstaunlichen Weitblick ...
 
Gestern auch ein Bericht in den Fernsehnachrichten. Der Flug wurde nach-
vollzogen, geringfügig länger als der Pionier damals. 800 Flugzeuge wären
in Folge gebaut worden. Es wurden auch alte Filmausschnitte gezeigt.
- Viele Grüße von Ulrike
 
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