Teil 5: So erlebte ich „Das Waffenrad“ – so erlebte das Waffenrad MICH !
Mechanisch talentierte bauten sich einen kleinen einachsigen Anhänger für das Waffenrad: eine Holzkiste mit zwei Rückstrahlern auf kleinen Speichenrädern. Dieser Anhänger wurde hinten beim Sattel mittels eines Gelenkes abnehmbar montiert.
Wilde, natürlich verbotene Spiele trieben die Halbwüchsigen (wie mein jüngerer älterer Bruder): Da Steyr-Münichholz als Waffenfabrik Angriffsziel mancher Bombergeschwader war, wimmelte es in unserer Umgebung von Bombentrichtern. Jene, die nicht leicht eingesehen werden konnten, waren das erklärte Ziel der Jugendlichen mit ihren Rädern. Diese Bombentrichter wurden nun aus einer Entfernung von etwa 50 Metern „angefahren“, so dass links (oder rechts) knapp vorbeigefahren werden konnte. Wer sich nun traute und bei dem die Geschwindigkeit reichte, der fuhr nun IM Bombentrichter knapp am oberen Rand im Kreis. Reichte die Geschwindigkeit nicht, stürzte man ab. War man schnell genug und bei ausreichender Kondition, schaffte man bis zu drei Runden (was bei der lockeren Erde viel bedeutete!). Hakte man mit dem Pedal irgendwo im Erdreich ein, hatte man ebenfalls ein massives Problem! Das ganze war unter „Todeskarussell“ allseits bekannt – außer bei den Eltern, gottseidank!
Das Waffenrad war maximal ein Dreisitzer: Einer saß am Sitz und trat, einer saß vorne am Lenker, die Beine seitlich auf die Gabel hängend aufgestützt, und einer saß hinten am Gepäckträger. Erst später wurde dies von der Polizei („vom Polizist’n“) beanstandet und untersagt, was bei manchen Ehepaaren für Diskussionen sorgte, wenn die Frau das Rad brauchte und sie hinten zur Arbeitsstätte mitfuhr, um dann allein die Einkäufe zu tätigen …. Eine beliebte Geschicklichkeitsübung war, dass einer am Sitz saß, und einer mit dem Rücken zur Fahrtrichtung am Lenker, der dann auch treten mußte … Wenn man so über den Stadtplatz in Steyr fuhr, erntete man anerkennende Zurufe … allerdings nur, wenn es sich um zwei Burschen handelte! Für ein Mädchen hätte eine derartige Sitzposition so kanpp vor einem Burschen Rufmord bedeutet!
Fast alle diese Dinge hatte ich gesehen, beobachtet, erfragt oder gezeigt bekommen – aber fahren durfte ich nicht! Zu wertvoll waren die Räder der Brüder, zu „verboten“ der Gedanke, den Vater zu fragen oder gar seines einfach zu nehmen …. Zu groß der Respekt, es vielleicht heimlich zu tun …. (ich lege Wert auf das Wort „Respekt“: es war keinesfalls „Angst“ …)
Nun geschah es dass ein
Junge der Nachbarschaft ein rotes kleines „Jugendrad“ bekam – eine Großmutter hatte es beschafft. Der Aufruhr unter uns Kindern und Jugendlichen war groß. Der Bursche war vielleicht 8 oder 9 Jahre – ich immerhin schon mal 11! DAS war die Chance, und geschäftstüchtig wie Jungs nun mal sind, verlieh der kleine Junge sein Rad gegen Bares: 50 Groschen = eine „Hofrunde“ von vielleicht 250 Metern (Schleifenfahren und Umkehren war ausdrücklich verboten – nur bei Mädchen wurde es fallweise toleriert!). Supersache – bloß: WIE FAHRE ICH RAD? Eine Weile konnte ich, obwohl im Besitz von fünf ganzen Schillingen für winterliches Holz- und Brikett-Schleppen für eine alte Nachbarin, die Tarnung aufrecht erhalten und mich auf Sparsamkeit ausreden – und lehnte das Fahren gegen Bezahlung ab! Aber der Bursche war freundlich – und bot mir an mich heimlich gratis fahren zu lassen! Nun ja, ich habe mich meinem jüngeren älteren Bruder anvertraut in meiner Not und – er half mir tatsächlich! Nun ist das so eine Sache mit so einem großen Rad mit Querstange! Aber eines wussten wir alle miteinander: WENN so kleine Jungs und Mädels mit Waffenrädern fuhren, dann MIT EINEM BEIN UNTER DER STANGE DURCH! Wie wir das alle geschafft haben, weiß ich heut nicht mehr, aber alle Kleinen fuhren so auf einem Herrenrad – wenn sie fuhren!
Fazit: nach der dritten Fahrstunde hat es meinen Bruder gelangweilt und er schickte mich allein los. War auch kein Problem, ich WOLLTE ja fahren also konnte ich’s auch schnell. Bloß war da plötzlich frisch geschottert und auch noch die Ecke im Hof ….. !!! Auf beiden Knien blutend schob ich das schwer verletzte Rad nach Hause, schleppte es in den Keller (was ich noch nie tat, weil da war eine steile Betonstiege!), klaubte mit staubigen Fingern die Steine aus den Knien und trug die nächsten Tage lange Hosen. NIE durfte meine Mutter davon erfahren! Mein Bruder reagierte auf meine Beichte völlig unerwartet: Er besorgte Wundsalbe für die eiternden Wunden, erfand Ausreden und Ablenkung als ich Fieber bekam, half mir den heilenden Schorf abzuschaben - und wartete inzwischen voller Eifer und von Mutter deshalb gelobt sein Rad. Mir verschlug es die Sprache als ich auf dieses nun wieder tiefschwarz glänzende Wunder abermals aufsteigen durfte!
Und JETZT war die Zeit reif für das rote Jugendrad des Nachbarjungen. Ich fuhr königlich zwei heimliche Gratisrunden und nachmittags mit den anderen abwechselnd zwei bezahlte Runden – und dann nie wieder, denn es war ohnehin viel zu klein für mich, und DAFÜR schleppte ich nicht im Winter Holz und Briketts!
Immerhin wurde ich beobachtet von einer stolzen Mutter (wieso kann er das?), fallweise auch
vom Vater (gut macht er das!) und verfolgt vom mißtrauischen Blick des älteren älteren Bruders (fährt der heimlich mit MEINEM Rad?) - die
Mütter waren ohnehin immer abwechselnd einmal am Fenster und kontrollierten so ihre Sprößlinge . Und so durfte ich ab nun ganz ganz selten aber doch offiziell das Waffenrad des jüngeren älteren Bruder ausleihen und mal eine Runde drehen. Seltsam berührt mich noch heute, dass ab diesem Zeitpunkt ein Schloß das Fahrrad meines älteren älteren Bruders sicherte …. Nie hätte ich daran gedacht … naja, einmal vielleicht ??? ;-)
Rückblickend wird mir klar, warum so viele, unwesentlich scheinende Details in meinem Gedächtnis haften blieben: es war die Zeit, wo erst
EIN Auto in unserer Straße parkte und wir es uns nur aus der Ferne zu betrachten getrauten; es war die Zeit wo nur wenige Menschen ein Moped besaßen; es ar die Zeit wo Wege immer noch zu Fuß abgewickelt wurden; wo Kinder in Gruppen spielten, sich beschäftigten und dabei das Leben miteinander lernten. Und neue Dinge wie das Steyrer Waffenrad gewaltig und massiv die Aufmerksamkeit zentrierten, die gesamten Lebensumstände veränderten, Hierarchien hierdurch umgebaut wurden; ja sogar wie in meinem Fall das mechanische Wissen erweiterten, sofern man wollte … und konnte … und durfte.
Ihr seht, das Waffenrad ist nicht nur einfach so ein Rad …
© Norbert Steinwendner