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Das Marmeladen Wunder

Das Marmeladenwunder

I. Hunger[

In jener Zeit, es war im Frühjahr 1947, die letzten Einkellerungskartoffeln waren am Silvesterabend 1946/47 in einem Kartoffelsalat drauf gegangen, hatten wir seit drei Tagen nichts mehr gegessen. Wir, das waren unsere Mutter, der Rolf, der Günter und unser Peterle. Wenn ich sage: "seit drei Tagen", dann meine ich das absolut. Um Kräfte zu sparen, gingen wir nicht zur Schule und lagen still herum, Wasser war die einzige Nahrung. Selbst den Kaffeesatz, Kaffee1) war damals gebrannte Gerste, hatten wir schon längst aufgezehrt, diesen Kaffee gab es auch nur auf Zuteilung über die Haushaltskarte.
Unsere Mutter, die immer ein unendliches Gottvertrauen hatte, wusste auch keinen Rat mehr.
"Jetzt sind wir ärmer als die Witwe von Sarepta"2), sagte sie und“: Wenn die Not am größten, ist Gotteshilfe am nächsten."
Das war ein schwacher Trost, die besagte Witwe hatte im Krug noch Mehl und in der Flasche noch einen Schluck Öl, wir hatten nicht einmal mehr eine Kartoffelschale, einfach nichts.

II. Versuchung

Wir waren jung und alles sträubte sich in uns, nun verhungern zu müssen. So machten wir uns auf, der Günter und ich, um etwas Essbares zu ergattern. Wir gingen quer durch die Stadt zum Opa Schmidt, freilich wussten wir, dass der auch nichts hatte. Vielleicht aber doch, dachten wir, Wenn, dann gibt er uns auch was. Betteln, das lag uns selbst in dieser Situation fern.
Unser Großvater freute sich über unsern Besuch, doch anbieten konnte er uns offensichtlich nichts. Auch unsere Tante Hilde, die das letzte Stückchen Brot geteilt hätte ungefragt, hatte nichts. Niemand erwähnte auch nur das Wort: Brot.
Traurig schlichen wir davon. Wohin aber sollten wir gehen? Nachhause und nun noch mehr geschwächt, hinlegen und warten, aber auf was? Das kam nicht in Frage.
So strolchten wir durch die Stadt. Wir hatten beschlossen, selbst vor Diebstahl nicht zurück zu schrecken. Es ging um etwas Essbares. Nur es fand sich keine Gelegenheit. Inzwischen war es schon Nachmittag und wir beiden waren weit im Süden der Stadt. Jetzt verschärften wir unseren Entschluss etwas zu stehlen und zwar direkt in einem Bäckerladen. Wir konnten uns auf unsere flinken Beine verlassen. Es gab da aber ein gewaltiges Hindernis, die Brote lagen bei den Bäckern immer hinter dem Ladentisch. Es war kein herankommen möglich, mussten wir nach einem halben Dutzend Versuchen, resignierend feststellen.
Wir glaubten unseren Augen nicht zu trauen, da stand ein Kinderwagen vor einem Laden, darin ein Baby und vor ihm auf der Wagendecke ein frisches 3 Pfund Brot, die Mutter zu dem Kinde war weit und breit nicht zu sehn.
Hatte uns das Brot der liebe Gott geschickt, so einfach war das nun, es nehmen und weglaufen, mehr war nicht notwendig.

III. Widerstanden

Schon streckte ich den Arm aus, da schaute mich das Kindchen mit großen Kulleraugen an. Mir war es, als ob es tief in meine Seele schaute. Meinen Arm konnte ich nicht mehr zurückziehen. Stattdessen meine Hand nun nach den Brote griff, tippte ich mit dem Zeigefinger dem Baby ganz zart auf die Stirne. Ich sah nur noch wie eine tiefe Freude und ein Lächeln sich auf seinem Gesicht zeigten. Wir rannten davon, der Günter und ich, ohne Brot. Wir sprachen auch nicht mehr darüber, wir rannten nach Hause.
IV. Wunder
Wir liefen immer noch und wussten, nur nicht anhalten, sonst bleiben wir liegen.
Schon in der Bergstraße angekommen, kurz hinter der Mauer, vor der Nummer 44, wir wohnten in der Bergstraße 12, stockten plötzlich unsere Füße und wir sanken ohne Befehl, ohne Abstimmung, beide auf den Boden.
Auf dem Pflaster lag ein großer Haufen Marmelade, völlig unberührt, er begann langsam breit zu laufen. Wie auch immer, die Marmelade musste wenige Minuten erst hier liegen. Es war Erdbeerkonfitüre, wie wir sie beide damals noch nie in unserem Leben gesehen hatten, noch gegessen.
Wir stopften uns hastig ein paar Hände voll in den Mund und schluckten sie gierig. Es war nur der Bruchteil eine Minute.
Das Gehirn arbeitete schnell. Die Marmelade musste schnell geborgen werden, das stand fest. Zu anderen Überlegungen und gar Fragen, waren jetzt keine Zeit.
Der Günter war es gewohnt, alles auszuführen was der Rolf befahl.
"Renne, so schnell du kannst, bring die große Abwaschschüssel. Sollte Mama nicht da sein, der Schlüssel hängt im Kaninchenstall. Lauf, wirst du gefragt, antworte nicht, komm schnell zurück!" Er rannte schon, ehe er noch den letzten Satz gehört haben konnte.
Ich hatte buchstäblich alle Hände voll zu tun und musste mit den blanken Händen den Haufen Marmelade zusammen halten.

V. Bergung

Was war das denn nun? So wollte ich mich gerade fragen und musste lachen, es war mein Günterchen. Es war zwar höchste Zeit, dass er kam, aber schneller hätte kaum einer handeln können.
Günter hat zu Hause, wie er sollte, die große Waschschüssel der Mutter weggenommen ohne ein Wort zu sprechen.
Wie sollte er aber, er war ja noch ein kleiner Kerl, mit der Schüssel rennen? Praktisch zu denken und zu handeln war und ist bis heute seine Stärke. Erstülpte sich die Schüssel übern Kopf und rannte wie ein Fassbinder los.
Das sah so komisch aus, dass man meinte, eine Schüssel hat Beine bekommen und rennt, man konnte ja Günters Kopf nicht sehen. Er aber schaute unter der Schüssel hervor auf seine Beine und auf einen, zwar sehr begrenzten Radius, nach vorn.
Das Bergen der Marmelade war jetzt nur noch ein Kinderspiel. Mit beiden Händen schöpften wir sie in die Schüssel.
Diese wurden fast voll, gerade so, dass wir sie beide nach Hause tragen konnten, ohne etwas zu verschütten.
Wir wussten auch, dass wir die Marmelade keinesfalls verunreinigen durften, denn uns war schon klar, dass diese jetzt ein wertvolles Tauschobjekt war. Auf dem Straßenpflaster hätte so ein, wenn auch geringer, Rest des kostbaren Gutes zurück bleiben muß.
Nun, wir hatten ja unsere Schüssel voll. Jetzt konnten wir an uns denken. Wir leckten von der Straße die Marmelade, da, wo sie doch noch dicker lag.
Nun, die Passanten, nicht nur Kinder, glaubten wohl, wir hätten vorher die Marmelade verschüttet. Jedenfalls, jetzt, da wir von der Straße leckten, taten sie es uns gleich.
Wir trollten uns nun mit unserer Schüssel nach Hause, Sie trug sich schwierig. Wir mussten, trotz der Stückchen Weges bis nach hause, öfter mal absetzen. Wie viel Marmelade möge es gewesen sein? In unsere Waschschüssel ging ein Eimer Wasser hinein.
Ich kann es nicht mehr sagen, ob in diesen 8 oder 10 Liter hinein passten. Wir hatten also zwischen 15 und 20 Pfund Marmelade, feinster Art, Erdbeer - Konfitüre, geborgen.

Neues Leben

Wir kamen nach Hause. Noch heute sehe ich das Gesicht der Mutter, sie schaute sorgenvoll, ungläubig, verwundert, überrascht, erleichtert und froh aus. Alle Nuancen der möglichen Empfindungen sah man über ihr Gesicht laufen. Nach dem sie mit dem Finger in die Marmelade langte, kostete und sagte:
„Gott sei Dank“, fing gleichsam ein neues Leben an.
Wir beide, der Günter und ich3), waren so fix und fertig von der Tagestour, wir schliefen beide vor der Schüssel Marmelade ein.
Noch die Augen zu, roch ich frisch gekochte Kartoffeln und den Duft von Muckefuck. Günter wachte auch gerade auf.
Die Mutter war rührig gewesen, während wir schliefen.
Kartoffeln, Brot, Zucker und eine Tüte Erbsen hatten sie gegen Marmelade getauscht.
Nie hat es einem Kaiser oder einer sonstigen Gesellschaft bei rauschenden Festen besser geschmeckt, als uns. Die Mutter hatte unser Peterle schon abgefüttert es schlief schon, denn es war inzwischen Nacht geworden.
Pellkartoffeln, mit der Schale auf der Herdplatte eine Kruste aufgebacken, dazu Bratenbrot und Muckefuck4, eine himmlische Mahlzeit. Zum Nachtisch eine Schnitte Brot, nass gemacht und mit Zucker bestreut, rundeten die Köstlichkeiten jenes Abends ab.

Am andern Tage, wir frühstückten gemeinsam, gingen wir wieder zur Schule. Im Ranzen eines jeden waren zwei Schnitten Brot.
Als wir nach Hause kamen, wartete erneut Arbeit auf uns. Die Truhe vom Brüder war zum Abholen bei der Post da. In ihr war 1 Zentner Kartoffeln und fast 1 kg Tabakblätter5) getrocknet und unfermentiert.
Am nächste Tag kam ein Paket aus dem Taunus von Tante Rosalia mit Linsen, als Samen für den Müller am Petersberg6). Die Mutter schaffte sie so gleich dahin und bekam dafür 20 kg feines Weizenmehl.
Wir hatten ein neues Leben geschenkt bekommen.
Wir hungerten noch oft in jenen Jahren, nie aber wieder so schlimm wie in jenen Tagen.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
AW: Wunder

Lieber Hallknecht,
das ist eine sehr berührende Geschichte und so liebvoll erzählt, daß man meint, dabei gewesen zu sein.
Der ausschlaggebende Moment war wohl, als das Brot nicht geklaut sondern das Baby angestupst wurde.
Man kriegt ja doch im Leben immer das zurück, was man auch gibt.
Ich bin grad richtig tief bewegt von deiner Erzählung.
DANKE DAFÜR!!!!!

Ich würde diese Geschichte sehr gerne auf meiner Homepage oder im Blog veröffentlichen (natürlich mit deinem Namen drunter) wenn du einverstanden bist?
Sag mir bitte Bescheid, ja?

Liebe Grüße und ich wünsche mir noch ganz viele solche Geschichten! (Gibt es zufällig ein Buch von dir?)

Sonja Raabenweib
 
AW: Wunder

Vielen Lieben Dank!

Ich finde, aus der Geschichte kann man was lernen und es wichtig sowas weiterzugeben.
Ich hoffe deine Kinder/ Enkelkinder wissen es einmal zu schätzen, daß du dir die Mühe machst das alles aufzuschreiben, und dann noch für den edlen Grund, daß es nie mehr Krieg geben möge.
Ich bete mit dir.


Alles Liebe, Sonja
 
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