Seit vielen Generationen (exakt: seit Eröffnung der Brennereisenbahn im Jahr 1867) können Millionen Menschen von ihren nervigen Erlebnissen auf dieser im Grunde recht kurzen Bahnstrecke erzählen...
Bis heute belastet diese Bahnstrecke die Nerven des Bahnreisenden bis auf das Äußerste, nicht zuletzt sind die Unzulänglichkeiten auf dieser Bahnstrecke auch daran schuld, dass der innereuropäische LKW-Verkehr in den letzten Jahrzehnten enormen Aufschwung erlebte.
Die völligen Unzulänglichkeiten der Brennerbahnstrecke liegen in dem kurzen österreichischen Teilstück zwischen Innsbruck und Brenner/Brennero, welches seit 1867 (!) unverändert geblieben ist.
Die Bahnstrecke Brennero - Bozen hingegen ist mit kilometerlangen Tunnels modern ausgebaut.
Dennoch liegen auch von italienischer Seite Schwachstellen vor, wie etwa völlig chaotische Zuganschlüsse verbunden mit Wartezeiten, ziemlich veraltete Wagons, Bahnhöfe mit der Gemütlichkeit und etwa der Behindertenfreundlichkeit des Jahres 1867 und natürlich dem unverständlichen bzw. zeitraubenden Lokomotiv-Wechsel am Brenner.
Was heute kein Spediteur mehr etwa seinen zu liefernden Fichtenstämmen oder den zu liefernden Stahltraversen zumuten kann, müssen Millionen leidende Bahngäste seit nun über 140 Jahren durchstehen.
Ich erzähle deshalb eher wertend über die katastrophalen Zustände der ÖBB im Bereich Innsbruck-Brenner, da ich mich in den letzten zwanzig Jahren auf dieser Eisenbahnstrecke oft zutiefst geärgert habe und erst unlängst wieder eine Fahrt im Stehen (!) vom Brenner bis Innsbruck verbringen musste.
Zudem möchte ich anmerken, dass das Projekt "Brenner Eisenbahn Tunnel" trotz erfreulicher Planung zu sehr davon ablenkt, dass die ÖBB und auch die italienischen Staatsbahnen für die nächsten zwanzig Jahre dringende Maßnahmen setzen müssen.
Um bei unserem Forum des Erzählens zu bleiben - anstelle eigener Abenteuer auf der Brennerbahn, bringe ich hier eine Erzählung aus dem Jahr 1914, die sich so ähnlich sicher auch heute Nacht ereignet haben wird:
Im "Auswanderer-Express",
Ein Brennerbahn-Idyll von Hans von der Drau, 1914.
"Wo fahren der Herr hin?" frug mich in Franzensfeste der Kondukteur.
"Nach Innsbruck," lautete die Antwort mit der angefügten Bitte um ein bescheidenes Ruheplätzchen, der kurzen Nachtruhe pflegen zu können.
Ein Trupp des Weges ziehender, mit Kisten, Koffern und Bündeln schwer bepackter italienischer und mazedonischer Saisonarbeiter beendete den so schön begonnen Dialog. Unsanft wurden wir von der drängenden und schreienden Gesellschaft beiseite geschoben.
"Hinten einsteigen!" schrie der Kondukteur und seine Arme glichen auf- und niedergehenden Signalmasten.
Gehorsam stiegen an die zwanzig Mann in den Münchner Durchgangswagen erster und zweiter Klasse.
Der Kondukteur wurde des Unheils gewahr, eilte zur Stelle und beförderte einen im Wageninneren verschwindenden Italiener heraus. Dann kam der Befehl, gleich einem Sturmwetter:
"Alles heraus! Himmelfixlaudon! Überall findens eini. Hinten einsteigen! Marsch z'ruck, z'ruck, z'ruck, no weiter z'ruck!"
"Herr Kondukteur!" unterbrach ich schüchtern seine Donnerrede, "wollen Sie nicht auch meiner gedenken?"
"Natürlich, für Sie werden wir an Schlafwagen ankoppeln. Da steigens ein, da is Platz no g'nug. Wir fahren gleich ab."
Ich stieg ein und trat in das von Dante so herrlich geschilderte Inferno. Wie ein Wehschrei tönte noch das Abfahrtssignal an mein Ohr, dann fiel die Türe krachend ins Schloß und fort gings der schönen Landeshauptstadt zu.
Ein Duft von Zwiebeln, Knoblauch und am Boden zerquetschter Orangenschalen umfing mich, als ich auf einer noch freien Sitzkante Platz nahm. Der Duft raubte mir den Atem. Das war ein Brigantenlager, in das ich geraten war. Drunter und drüber lag Mensch, Koffer, Kisten, Bündel, man schnarchte, spuckte und gähnte.
Mit Gewalt riß ich ein Fenster auf, mir Luft zu schaffen.
"Werden Si zumacken den Fenster! Ostia! Wir wollen si nix zu kalt haben in die Sug!" schrie jemand hinter mir. Dann klangs im Chor schon feierlicher:
"Snell zumacken den Fenster!"
Ich schloß, der Übermacht weichend, das Fenster. Während dieses Zwischenspiels hatte sich mein Gegenüber, ein Sohn des Südens, seiner Schuhe entledigt und die Füße neben mich hingestreckt.
O wonnesamer Zauber dieses lieblichsten der Düfte. Mein Nachbar zur Rechten spuckte mit unvergleichlicher Treffsicherheit seine Koutabakladung über unsere Knie in den Korridorgang.
Meine Hand zeigte ihm das schöne italienische Sprichwort, das gedruckt an der Wand hing. "Si prega di non sputare!"
"Wo ick hinspuck, wenn der Fenster su sein?"
Das Fenster fiel sofort in die Vertiefung.
"Sumacken den Fenster! Per dio! Sumacken!" gröhlte der Chor der Rache.
Das Fenster stieg zur Höhe und ich ergriff die Flucht zum hochgelegenen ledergepolsterten Kondukteursitz im Korridor. Dort oben übermannte mich der Schlaf.
"Sie - Sie," kam eine Stimme aus der Unterwelt zu mir herauf, "da müssen Sie herunter, der Platz ist nicht für Passagiere."
"Nicht eher, bis Sie mir einen menschenwürdigen Platz verschafft haben," entgegnete ich.
"Kommen Sie mit mir," forderte er mich auf. So zogen wir Wagen für Wagen fürbaß bis nahe an das Zugsende. In einem Abteil fand ich ein Plätzchen, nicht groß, aber in anständiger Umgebung.
Doch meine Neugier war erweckt und so zog ich aus zu neuer eigenmächtiger Forschungsreise, und siehe da, ich fand drei leere, ganz leere Wagen. Das Geheimnis des Kondukteurs war entdeckt. Auf einer Bank in einem stillen Winkel legte ich mich zur Ruhe und der Schlaf aller Gerechten umfing mich. - - - -
Wie schön wars doch in Innsbruck, wie schmeckte das Gabelfrühstück beim "Breinößl"... Da war der Traum zu Ende durch eines zarten Rippenstoßes Allgewalt.
Jäh fuhr ich auf und blickte in das rußgeschwärzte Gesicht eines Bahngeistes, während auf mich der helle Lichtstrahl einer Blendlaterne fiel.
"Was machen Sie denn hier?" fuhr mich das Gespenst an.
"Nach Innsbruck fahre ich, wie Sie sehen, und die Zeit vertreibe ich mir mit Schlafen."
"So - - -, da werdens aber schon die Freundlichkeit haben müssen, auszusteigen, der nächste Zug nach Innsbruck geht in vier Stunden."
"Was?"
"Ja, der Wagen, wo sie jetzt sein, und die andern zwei, bleiben immer am Brenner zurück als Reserve. Ihr Zug ist längst schon in Innsbruck."
Als der Tag schon graute, saß ich noch immer auf des Brenners Höhe und dann kam der Zug, der Erlöser, und führte mich Schwergeprüften dem Ziele zu.
Der "Auswanderer-Express" wird mich wohl nimmer wiedersehen.
Quelle: Hans von der Drau, Im Auswanderer-Express, in: Innsbrucker Nachrichten, 13. Mai 1914.
Wolfgang (SAGEN.at)
Bis heute belastet diese Bahnstrecke die Nerven des Bahnreisenden bis auf das Äußerste, nicht zuletzt sind die Unzulänglichkeiten auf dieser Bahnstrecke auch daran schuld, dass der innereuropäische LKW-Verkehr in den letzten Jahrzehnten enormen Aufschwung erlebte.
Die völligen Unzulänglichkeiten der Brennerbahnstrecke liegen in dem kurzen österreichischen Teilstück zwischen Innsbruck und Brenner/Brennero, welches seit 1867 (!) unverändert geblieben ist.
Die Bahnstrecke Brennero - Bozen hingegen ist mit kilometerlangen Tunnels modern ausgebaut.
Dennoch liegen auch von italienischer Seite Schwachstellen vor, wie etwa völlig chaotische Zuganschlüsse verbunden mit Wartezeiten, ziemlich veraltete Wagons, Bahnhöfe mit der Gemütlichkeit und etwa der Behindertenfreundlichkeit des Jahres 1867 und natürlich dem unverständlichen bzw. zeitraubenden Lokomotiv-Wechsel am Brenner.
Was heute kein Spediteur mehr etwa seinen zu liefernden Fichtenstämmen oder den zu liefernden Stahltraversen zumuten kann, müssen Millionen leidende Bahngäste seit nun über 140 Jahren durchstehen.
Ich erzähle deshalb eher wertend über die katastrophalen Zustände der ÖBB im Bereich Innsbruck-Brenner, da ich mich in den letzten zwanzig Jahren auf dieser Eisenbahnstrecke oft zutiefst geärgert habe und erst unlängst wieder eine Fahrt im Stehen (!) vom Brenner bis Innsbruck verbringen musste.
Zudem möchte ich anmerken, dass das Projekt "Brenner Eisenbahn Tunnel" trotz erfreulicher Planung zu sehr davon ablenkt, dass die ÖBB und auch die italienischen Staatsbahnen für die nächsten zwanzig Jahre dringende Maßnahmen setzen müssen.
Um bei unserem Forum des Erzählens zu bleiben - anstelle eigener Abenteuer auf der Brennerbahn, bringe ich hier eine Erzählung aus dem Jahr 1914, die sich so ähnlich sicher auch heute Nacht ereignet haben wird:
Im "Auswanderer-Express",
Ein Brennerbahn-Idyll von Hans von der Drau, 1914.
"Wo fahren der Herr hin?" frug mich in Franzensfeste der Kondukteur.
"Nach Innsbruck," lautete die Antwort mit der angefügten Bitte um ein bescheidenes Ruheplätzchen, der kurzen Nachtruhe pflegen zu können.
Ein Trupp des Weges ziehender, mit Kisten, Koffern und Bündeln schwer bepackter italienischer und mazedonischer Saisonarbeiter beendete den so schön begonnen Dialog. Unsanft wurden wir von der drängenden und schreienden Gesellschaft beiseite geschoben.
"Hinten einsteigen!" schrie der Kondukteur und seine Arme glichen auf- und niedergehenden Signalmasten.
Gehorsam stiegen an die zwanzig Mann in den Münchner Durchgangswagen erster und zweiter Klasse.
Der Kondukteur wurde des Unheils gewahr, eilte zur Stelle und beförderte einen im Wageninneren verschwindenden Italiener heraus. Dann kam der Befehl, gleich einem Sturmwetter:
"Alles heraus! Himmelfixlaudon! Überall findens eini. Hinten einsteigen! Marsch z'ruck, z'ruck, z'ruck, no weiter z'ruck!"
"Herr Kondukteur!" unterbrach ich schüchtern seine Donnerrede, "wollen Sie nicht auch meiner gedenken?"
"Natürlich, für Sie werden wir an Schlafwagen ankoppeln. Da steigens ein, da is Platz no g'nug. Wir fahren gleich ab."
Ich stieg ein und trat in das von Dante so herrlich geschilderte Inferno. Wie ein Wehschrei tönte noch das Abfahrtssignal an mein Ohr, dann fiel die Türe krachend ins Schloß und fort gings der schönen Landeshauptstadt zu.
Ein Duft von Zwiebeln, Knoblauch und am Boden zerquetschter Orangenschalen umfing mich, als ich auf einer noch freien Sitzkante Platz nahm. Der Duft raubte mir den Atem. Das war ein Brigantenlager, in das ich geraten war. Drunter und drüber lag Mensch, Koffer, Kisten, Bündel, man schnarchte, spuckte und gähnte.
Mit Gewalt riß ich ein Fenster auf, mir Luft zu schaffen.
"Werden Si zumacken den Fenster! Ostia! Wir wollen si nix zu kalt haben in die Sug!" schrie jemand hinter mir. Dann klangs im Chor schon feierlicher:
"Snell zumacken den Fenster!"
Ich schloß, der Übermacht weichend, das Fenster. Während dieses Zwischenspiels hatte sich mein Gegenüber, ein Sohn des Südens, seiner Schuhe entledigt und die Füße neben mich hingestreckt.
O wonnesamer Zauber dieses lieblichsten der Düfte. Mein Nachbar zur Rechten spuckte mit unvergleichlicher Treffsicherheit seine Koutabakladung über unsere Knie in den Korridorgang.
Meine Hand zeigte ihm das schöne italienische Sprichwort, das gedruckt an der Wand hing. "Si prega di non sputare!"
"Wo ick hinspuck, wenn der Fenster su sein?"
Das Fenster fiel sofort in die Vertiefung.
"Sumacken den Fenster! Per dio! Sumacken!" gröhlte der Chor der Rache.
Das Fenster stieg zur Höhe und ich ergriff die Flucht zum hochgelegenen ledergepolsterten Kondukteursitz im Korridor. Dort oben übermannte mich der Schlaf.
"Sie - Sie," kam eine Stimme aus der Unterwelt zu mir herauf, "da müssen Sie herunter, der Platz ist nicht für Passagiere."
"Nicht eher, bis Sie mir einen menschenwürdigen Platz verschafft haben," entgegnete ich.
"Kommen Sie mit mir," forderte er mich auf. So zogen wir Wagen für Wagen fürbaß bis nahe an das Zugsende. In einem Abteil fand ich ein Plätzchen, nicht groß, aber in anständiger Umgebung.
Doch meine Neugier war erweckt und so zog ich aus zu neuer eigenmächtiger Forschungsreise, und siehe da, ich fand drei leere, ganz leere Wagen. Das Geheimnis des Kondukteurs war entdeckt. Auf einer Bank in einem stillen Winkel legte ich mich zur Ruhe und der Schlaf aller Gerechten umfing mich. - - - -
Wie schön wars doch in Innsbruck, wie schmeckte das Gabelfrühstück beim "Breinößl"... Da war der Traum zu Ende durch eines zarten Rippenstoßes Allgewalt.
Jäh fuhr ich auf und blickte in das rußgeschwärzte Gesicht eines Bahngeistes, während auf mich der helle Lichtstrahl einer Blendlaterne fiel.
"Was machen Sie denn hier?" fuhr mich das Gespenst an.
"Nach Innsbruck fahre ich, wie Sie sehen, und die Zeit vertreibe ich mir mit Schlafen."
"So - - -, da werdens aber schon die Freundlichkeit haben müssen, auszusteigen, der nächste Zug nach Innsbruck geht in vier Stunden."
"Was?"
"Ja, der Wagen, wo sie jetzt sein, und die andern zwei, bleiben immer am Brenner zurück als Reserve. Ihr Zug ist längst schon in Innsbruck."
Als der Tag schon graute, saß ich noch immer auf des Brenners Höhe und dann kam der Zug, der Erlöser, und führte mich Schwergeprüften dem Ziele zu.
Der "Auswanderer-Express" wird mich wohl nimmer wiedersehen.
Quelle: Hans von der Drau, Im Auswanderer-Express, in: Innsbrucker Nachrichten, 13. Mai 1914.
Wolfgang (SAGEN.at)
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