Einer nach dem anderen fing Feuer
Als Zehnjähriger erlebte unser Leser Peter Popp den Feuersturm des 13. Februar in Dresden-Johannstadt. 70 Jahre später erinnert er sich an die schrecklichsten Stunden seines Lebens.
Von Peter Popp
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Es war Faschingsdienstag, der 13. Februar 1945. Vom Indianerspielen ermüdet, waren mein Zwillingsbruder und ich gegen 20 Uhr in tiefen Schlaf gesunken. Doch um etwa drei viertel zehn wurde er durch das Heulen der Alarmsirenen unterbrochen. Wir waren zehn Jahre alt, unsere Mutter war 1941 an Leukämie gestorben. Unser Vater hatte 1943 eine neue Frau geheiratet, die einen vierjährigen Jungen mit in die Ehe brachte. 1944 wurde uns eine Schwester geboren. Er selbst war im Januar 1945 zum Volkssturm eingezogen worden.
Damals gab es fast jede Nacht, manchmal auch mehrfach Fliegeralarm. „Wie gewöhnlich“, dachten wir deshalb zunächst. Bald waren alle Bewohner des Hauses wie so oft im Luftschutzkeller versammelt. Unsere kleine Schwester, gerade ein Jahr alt, blieb im Kinderwagen. Verstört über die eindringlichen Luftlagemeldungen begannen einige Frauen, sich zu sorgen. Mir schräg gegenüber saß der glatzköpfige Herr Dr. Fritzsche. „Dresden hat keine militärische Bedeutung“, sagte er beruhigend, „die nächsten Rüstungsbetriebe befinden sich in Lauta und in Schwarzheide“, wahrscheinlich flögen die Kampfverbände dorthin. Das ließ viele aufatmen.
Doch bald hörten wir erst leise, dann näher kommend, aus einem dumpfen Grollen heraus Detonationen. Als es nach einiger Zeit wieder still wurde, seufzten einige, froh darüber, dass wir wieder einmal Glück gehabt hätten. Doch plötzlich setzten die Detonationen wieder ein, diesmal viel näher und heftiger, wobei ihnen ein pfeifender Ton voranging. „Wenn man das hört, fallen die Bomben unmittelbar über uns.“ sagte Dr. Fritzsche. Nachdem die Beleuchtung mehrmals geflackert hatte, verlosch sie endgültig. Einige Erwachsene und vor allem die Kinder schrien und weinten. Dann hörte ich die Stimme unserer Omi, die laut und ununterbrochen betete. Mich ergriff panische Angst.
Dr. Fritzsche zündete eine Petroleumlampe an, drei andere folgten seinem Beispiel. Bald war die Luft so stark mit Kalkstaub angefüllt, dass man die Lampen nur noch wie durch Nebel erkennen konnte. Das Donnern und Dröhnen, verbunden mit dem Zittern der Wände und dem Schwanken des Bodens erfolgte nun nahezu pausenlos. Ich glaubte, dass bald alles über uns zusammenstürzt und wir einen qualvollen Tod finden werden.
Viele hatten alles verloren
Nach einer Zeit, die uns wie ewig vorkam, verringerte sich die Anzahl der Einschläge, die sich auch mehr und mehr von unserem Wohnviertel entfernten. Alle warteten auf die Entwarnungssirene; erst danach durften wir laut Luftschutzbestimmungen den Keller verlassen. Irgendwann sagte unsere Luftschutzwartin, es könnten wohl auch die Sirenen dem Angriff zum Opfer gefallen sein, und stellte uns das Verlassen des Kellers frei.
Der erste Blick zur Hoftür hinaus ließ das flackernde Licht vereinzelter Feuer durch die kaum durchsichtige Staubatmosphäre erkennen. Dann stiegen wir weiter die mit kaputten Fensterrahmen und Scherben bedeckte Treppe hinauf zu unserer Wohnung im ersten Stock. Wir fanden ein gewaltiges Chaos vor. Die Möbel waren umgestürzt und teilweise zerstört, ihr Inhalt über die Zimmer verteilt. Die Betten waren nicht benutzbar. Doch alles war noch da, wir brauchten es nur wieder zusammensuchen und zu säubern. Dazu wollten wir aber das Tageslicht nutzen und begaben uns wie die anderen auch zurück in den Keller, um den Rest der Nacht wenigstens im Sitzen zu verbringen. Dort wärmten wir uns mit Decken. Einige weinten, da sie alles verloren hatten. Von der zweiten Etage an aufwärts war von unserem Haus nichts mehr übrig.
Ich tröstete mich damit, dass wenigstens mein Lieblingsspielzeug, ein Märklin Stabilbaukasten, den wir zu Weihnachten geschenkt bekommen hatten, sicher noch existierte, wobei ich wohl langsam in einen unruhigen Schlaf gesunken bin.
Geweckt wurden wir plötzlich durch vereinzelte Detonationen. Deutlich hörte man Propellergeräusche von Flugzeugen. Also ein erneuter Angriff, aber ohne Alarmsirene. Die Detonationen waren diesmal nicht so stark und so häufig wie vorher. Das beruhigte die Kellerinsassen anfänglich, niemand geriet in Panik, alle warteten geduldig auf das Ende des Angriffes. Schlimmer als vorhin könne es ja ohnehin nicht kommen, so dachten wir. Doch auf einmal wurde er sehr warm, Brandgeruch strömte in den Keller. Unsere Luftschutzwartin Frau Schreiber ging nach oben, kam aber nach kurzer Zeit aufgeregt zurück und rief: „Das ganze Haus steht in Flammen!“ Wir sollten unverzüglich den Keller durch den brennenden Hausflur verlassen, geschützt mit nassen Decken.
Wir rannten durch den Hausflur, von dessen Decke schon brennende Balken stürzten, und erreichten die mit Trümmern übersäte Straße. Diesmal brannten nicht nur einzelne Häuser: Alle Straßenzüge standen in Flammen. Von starkem Wind angetrieben, prasselten glühende Stückchen auf uns herab. Wir versuchten, die Mitte des Zöllner-Platzes zu erreichen, wo die sengende Hitze der umstehenden Häuser etwas geringer war. Doch kaum hatten wir uns ein paar Meter vom Haus entfernt, riss der Sturm den Kinderwagen hoch in Luft, wobei glücklicherweise unsere kleine Schwester herausfiel. Ich sah noch, wie unsere Mutter das schreiende Bündel aufhob, als meine umgehängte Decke mich wie ein Segel quer über die Dürerstraße auf das am hellsten lodernde Haus zuschleuderte.
Etwas Sicherheit unter Litfaßsäule
Aber ich stürzte über Trümmerteile und konnte mich festklammern. So gelang es mir auch, die große Sicherheitsnadel zu öffnen, mit der ich die Decke am Hals befestigt hatte, die darauf emporflog und zischend in den Flammen verschwand. Um dem Sturm keine Angriffsfläche zu geben, kroch ich auf allen vieren zurück zum Zöllner-Platz, wobei es mir jedoch nicht gelang, die Meinen wieder zu finden. Ein Stück entfernt vom Eingang eines Schutzgrabens hatte der Luftdruck der detonierenden Bomben die zwei oberen Betonringe einer Litfaßsäule verschoben, sodass diese wie ein kleines Schutzdach etwa einen Meter herauskragten. Darunter hatten sich etwa zwölf Menschen eng zusammengepfercht. Ich dachte, dass es das Beste sei, mich dazuzugesellen, und kroch zwischen sie. Vier ältere Männer, Frauen und Kinder nahmen mich bereitwillig in ihre Mitte, wobei meine Todesangst versiegte und ich mich ein wenig sicher fühlte.
Es verging Stunde um Stunde. Der heiße Rauch war inzwischen so dicht geworden, dass die Sichtweite nur noch etwa fünf Meter betrug. Von Zeit zu Zeit hörte man neben dem Heulen des Sturmes das Zusammenstürzen brennender Häuser. Sehen konnte man jedoch nichts. Immer schwieriger wurde das Atmen. Wir versuchten, uns Teile unserer Kleidung vor Mund und Nase zu pressen. Die meisten plagte quälender Hustenreiz. Mit der Zeit wurde das Husten so schmerzhaft, dass ich große Angst hatte, ersticken zu müssen.
Jeder kümmert sich um sich selbst
Unbarmherzig prasselte der Funkenhagel immer dichter auf uns, ständig musste man mit den Händen kleine Brände am Körper löschen. Hatten sich anfangs die Menschen unserer Gruppe noch gegenseitig geholfen, so kümmerte sich jetzt jeder nur noch um sich selbst. Ich sah, wie eine ältere Frau, die mit einem etwa vier Jahre alten Mädchen am Rand saß, hell entflammte. „Wälzen Sie sich, Wälzen Sie sich“, schrie ich ihr ständig zu, so wie wir es im Lehrgang gelernt hatten. Aber entweder hörte sie mich nicht, oder sie hatte keine Kraft mehr. Sie war die Erste, die vor unseren Augen verbrannte. Seltsamerweise schrie sie nicht, nur ein Stöhnen kam aus ihrem Mund, viel leiser als die Schreie des kleinen Mädchens, das nun den gleichen Tod starb.
Ich konnte mich um niemanden mehr kümmern, denn inzwischen hatten meine Hosenbeine Feuer gefangen, und mehrfach musste auch ich meinen Kopf von Funken befreien. Einer nach dem anderen der mich umgebenden Menschen fing Feuer, wobei ihre Abwehrbewegungen immer schwächer wurden. Damals wunderte mich das sehr. Erst Jahre später wurde mir klar, dass daran wohl die Rauchvergiftung schuld war, was vielleicht auch ein Segen war. Dass Letzte, woran ich mich erinnere, ist mein Nachbar, der nackt, mit Ruß und Brandblasen bedeckt, zuckend neben mir lag und ein lautes Röcheln ausstieß.
Ich weiß nicht, wie lange ich so gelegen habe. Ich spürte auf einmal nur, wie mich jemand an meiner Hand zog, wodurch ich erwachte. Trotz weit geöffneter Augen, konnte ich alles nur verschwommen erkennen. An mir lehnte ein regloser, angekohlter Körper. Wahrscheinlich hatte er mich vor dem Tod bewahrt. Die Frau, die mich an der Hand zog, sagte: „Komm, wir müssen hier weg“. Wir waren vermutlich die einzigen Überlebenden unserer kleinen Gruppe, die hier Schutz gesucht hatte.
Funkenflug, Hitze und Sturm hatten sich inzwischen abgeschwächt, aber noch immer war es dunkel und der Rauch dicht und undurchsichtig. Als endlich Dämmerung die Luft durchdrang, hörte ich die Stimme eines Mannes: „Nach meiner Uhr ist es jetzt gegen zehn“. Am Eingang zum Schutzgraben, das gleiche Bild wie an unserer Litfaßsäule: angebrannte, verkohlte, zum Teil noch rauchende, menschliche Körper, stöhnende Schwerverletzte. Und überall der Geruch von verbranntem Fleisch. Wir stiegen über Trümmer und Leichen in Ostrichtung über den Zöllnerplatz und dann aus Dresden hinaus. Stundenlang führte mich die Frau geduldig an der Hand. Leider habe ich sie in der ersten halben Stunde nicht richtig angeblickt, weshalb ich bis heute nicht weiß, wie sie ausgesehen hat und wer sie war. Meine Sehkraft wurde immer schwächer. Nach einer Weile sah ich nur noch graue Schleier.
Als wir am Mittag des 14. Februar das Blaue Wunder erreichten, hörten wir wieder das Dröhnen einschlagender Bomben, die Alliierten flogen ihren dritten Angriff. Langsam hörten die Zerstörungen auf, wir gingen weiter, die Grundstraße kilometerlang bergauf. Völlig erschöpft und halb verdurstet wankte ich neben der Frau her. Abends erreichten wir Weißig, zehn Kilometer von unserem Ausgangspunkt entfernt, wo die Wehrmacht am Ortseingang ein Sanitätszelt errichtet hatte. Hier übergab mich meine Retterin den Sanitätern, sagte kurz „Alles Gute“ und ging weiter ihren Weg. Ich bin ihr nie wieder begegnet.
Mir wurden die Brandwunden verbunden, und vor allem meine schmerzenden Augen mit einer mildernden Flüssigkeit gespült. Man übergab mich einer Familie Bayer, die am Ortseingang ein Häuschen besaß. Dort bekam ich eine warme Suppe zu essen und wurde gleich ins Bett gelegt, wo ich sofort in einen tiefen Schlaf fiel.
Zwei Nächte und einen Tag soll ich geschlafen haben. Nach dem Erwachen spürte ich, dass mein Sehvermögen allmählich wieder zurückkehrte. Am frühen Morgen des vierten Tages ging ich zurück nach Johannstadt. Allerorts stieg Rauch aus den gespenstischen Ruinen. Aus einigen schlugen noch Flammen hervor. Je weiter ich mich unserem Viertel näherte, desto genauer schaute ich mir mit ängstlichen Gefühlen die vielen herumliegenden, zum Teil verbrannten, zerfetzten und geschrumpften Leichen an, immer befürchtend, die eine oder die andere zu erkennen. Das war jedoch nicht der Fall.
Eine Nachricht von der Familie
Endlich kam ich zu unserem Haus. Es war schwer mitgenommen, etwa bis zum zweiten Stock steckten die Mauern in einem Berg von Ziegeln. Ich fand mehrere mit Kreide geschriebene Sätze an der Wand, unter anderem auch: „Wir alle sind im Haus der Familie Watzdorf, nur Peter fehlt“. Ich kannte die Villa Watzdorf, meine neue Tante Traudel hatte dort als Gouvernante gearbeitet. Das Grundstück lag in halber Höhe auf der Schillerstraße zwischen Körnerplatz und Mordgrundbrücke in Dresden-Loschwitz.
Ein Stein fiel mir vom Herzen: Ich würde all die Meinen wiedersehen! So stieg ich über den warmen Trümmerberg zum Hof, von wo auch die obere Hälfte der offenen Kellertür zu erkennen war. Drinnen empfing mich die Luft eines Backofens. Der Keller war eigentümlicherweise intakt geblieben. Leider trog meine Hoffnung, in den beiden dort zum Feuerlöschen hingestellten Zinkwannen noch Wasser zu finden, da mich großer Durst plagte: Sie waren beide ausgetrocknet. In jenem Keller, der zu unserer Wohnung gehörte, standen noch zwei riesige Reisekoffer und einer von normaler Größe, in die wir für den Ernstfall das Notwendigste gepackt hatten. Ich nahm den Normalkoffer, hievte ihn nach draußen und begann mit diesem Gepäck den mühseligen Marsch nach Loschwitz. Etwa gegen 22 Uhr kam ich völlig erschöpft in der Villa Watzdorf an – und wurde von meiner Familie in die Arme geschlossen.
Zwei Tage konnten wir in Loschwitz bleiben. Dann beschlagnahmte die Wehrmacht das Gebäude. Wir aber mussten wieder in die Ungewissheit hinaus ziehen.