Heute bin ich in der „Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, Neue Serie Band XXXIV, Gesamtserie Band 83“ (aus dem Jahr 1980) zufällig über einen interessanten Artikel von Richard Wolfram gestolpert: „Sorgen um Sagen“. Dabei geht es u.a. um die beiden Autoren und Sagensammler Karl Felix Wolff und Johann Adolf Heyl, und deren offensichtlich recht unbefangener Umgang mit den ihnen zugetragenen Sagen.
Wolff war ein autodidaktischer Volkskundler und Sagensammler, er ist vor allem für seine Sammlung der „Dolomitensagen“ bekannt. Wikipedia dazu:„Sein bleibendes Verdienst ist, noch vor dem Ersten Weltkrieg ladinische Sagen gesammelt und veröffentlicht zu haben, die, wie Wolff selbst bitter feststellen musste, schon wenige Jahre später fürimmer vergessen gewesen wären oder nicht mehr vervollständigt werden konnten, weil es keine Gewährsleute mehr gab. Wolff konzentrierte sich auf Sagen, die ihm typisch für Ladinien erschienen, während er jene ladinische Sagen, die auch anderswo ähnlich erzählt wurden, weitestgehend nicht beachtete. Insgesamt hat Wolff das Material zu Südtiroler Sagen wesentlich bereichert. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Felix_Wolff )
Dabei hat er es aber nicht beim Sammeln belassen, sondern die Sagen weiter bearbeitet, um nicht zu sagen: stellenweise frei erfunden. Das gab er auch ganz freimütig zu: "... komme ich noch einmal darauf zurück, was ich schon1913 erklärt habe, nämlich daß die Erzählungen von mir frei bearbeitet worden sind...Dazu gehört das Überbauen der Lücken und das Herausholen jener seelischen Stimmung, von der die Dolomitenbewohner selbst überhaupt nie sprechen.“ (zitiert nach https://www.sagen.at/doku/biographien/wolff.html)
Dazu fühlte er sich als Einheimischer offenbar berechtigt, denn „nur ein Verfasser, dervon seiner Kindheit an solche Eindrücke in sich aufgenommen und immer wieder Land und Leute gesehen und erlebt hatte, durft das unternehmen. …" (zitiert nach sagen.at: https://www.sagen.at/doku/biographien/wolff.html). Nun ja.
Die italienische Volkskundlerin und Professorin Ulrike Kindl bemängelte den allzu „kreativen“ Umgang Wolffs mit dem „Sammeln“ von Sagen, die tatsächlich eine subjektive Bearbeitung darstellen, auch in ihren Werken („Kritische Lektüre der Dolomitensagen von KarlFelix Wolff. Band I: Einzelsagen.IstitutLadin „Micurá de Rü“, St. Martin in Thurn 1983 und „Kritische Lektüre der Dolomitensagen von Karl Felix Wolff. Band II:Sagenzyklen – Die Erzählungen vom Reich der Fanes.Istitut Ladin „Micurá de Rü“, St. Martin in Thurn 1997, ISBN88-8171-003-X. )
Der Autor des Artikels „Sorgen um Sagen“, Richard Wolfram, schreibt, dass Wolff weiters auch zugab, lediglich zwei (!) Sagen, nämlich „Salvarja“und „Der Wintersenner“ wörtlich übersetzt aus dem Ladinischen Original übernommen zu haben. Eine der von ihm bearbeiteten Sagen hat er aus sage und schreibe fünf (!) verschiedenen Elementen zusammengeschustert. Wolfram wollte mehr darüber wissen und suchte das Gespräch mit Wolff (das scheint noch in den 1940er Jahren gewesen zu sein). Wolff meinte, dass die ladinischsprachigenMitschriften nach seinen Volkserzählern meist recht kurz und einfach waren. (Vielleicht hat er sie einfach zu kurz und langweilig gefunden und sie deswegen mehr „ausgeschmückt“, das ist mein Gedanke dazu). Wolfram interessierte sich brennend für die Urfassungen dieser Sagen und bat Wolff inständig, ihm (und der Wissenschaft )diese zugänglich zu machen. Wolff hingegen meinte nur, er habe die Originale verbrannt...
Nun zu Johann Adolf Heyl. Heyl war Lehrer, und wie Wolff sammelte auch er Sagen aus dem Volk. Eine der wichtigsten und größten Sagensammlungen Tirols stellt sein 800 Seiten starkes Buch „Volkssagen, Bräuche und Meinungen ausTirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf Heyl“ (Brixen1897) dar, das hier auf sagen.at online zu finden ist: https://www.sagen.at/texte/sagen/oesterreich/tirol/heyl/sagen_heyl.html und das zu den Standardwerken der tirolischen Sagenforschung gehört.
Heyl benennt brav seine Quellen (die Gewährsleute aus dem Volk), dabei fiel dem Autor des eingangs erwähnten Artikels auf, dass unter den Quellen ungewöhnlich viele Lehrer (eigentlich Lehrerinnen) zu finden waren. Wolfram wurde neugierig und wollte mehr darüber wissen, forschte nach und konnte eine ehemalige Lehrerin (Frau Amalia Laimer) ausfindig machen, die ihm von ihrer Ausbildungszeit zur Lehrerin unter Heyl erzählte. Heyl war nämlich von 1886 bis 1905 Lehrer an der Staatlichen Lehrerinnenbildungsanstalt in Innsbruck (ab 1906 sogar der Leiter) und bildete somit in dieser Funktion die künftigen Lehrerinnen aus. Zu seiner Ausbildung gehörte auch, dass die Lehramtskandidatinnen ihrem Lehrer Sagen liefern mussten. Frau Laimer berichtete, dass er die Lehramtskandidatinnen deswegen immens sekkiert hat und wenn diese ihm keine guten Sagen brachten, gab er ihnen schlechte Noten, was zu folgendem Ergebnis führte: „Ein Teil der Sagen bei Heyl ist deshalb derstunken und derlogen.“ (O-Ton Frau Laimer)
Ich muss schon sagen, ich bin wirklich platt!
Die Dolomitensagen von Wolff hab ich schon im Volksschulalter rauf und runter gelesen, die Tatsache, dass er die Sagen stark bearbeitet bzw. Teile davon schlichtweg erfunden hat, ist mir hingegen neu. Für mich geht das weit über die sogenannte künstlerische Freiheit hinaus. Dass er weiters die Originalmitschriften vernichtet hat – nun, da fehlen mir einfach nur mehr die Worte.
Freilich ist es so, dass bei jedem neuerlichen Erzählen von Geschichten jeglicher Art bewusst oder nicht bewusst Details weggelassen werden, andere, neue dazukommen oder leicht verändert werden, das liegt in der Natur der Sache und erinnert mich an das Kinderspiel „Stille Post“, dieses Phänomen ist uns wohl allen aus dem Alltag bekannt. Ein Sagensammler jedoch sollte – zumindest meiner Ansicht nach - jedoch Sammeln und das Gehörte und Erzählte so wortgetreu wie nur möglich wiedergeben (bzw. gegebenfalls übersetzen, wenn es sich um eine andere Sprache handelt). Nach meinem Verständnis heißt sammeln sammeln – und nicht verändern bzw neu erfinden, egal ob dies bewusst oder nicht bewusst geschieht.
Wolff hat die subjektiven Veränderungen jedoch mit voller Absicht vorgenommen und sah sich dazu auch durchaus berechtig, wir erinnern uns an seine Aussage: „Nur ein Verfasser, der von seiner Kindheit an solche Eindrücke in sich aufgenommen und immer wieder Land und Leute gesehen und erlebt hatte, durft das unternehmen. …„
Wir begegnen hier also einem Sagensammler, der die ihm zugetragenen Sagen nach Belieben ändert, ergänzt oder neu erfindet und einem Lehrer, der seine Schülerinnen mit schlechten Noten erpresst, um an gutes „Material“zu kommen; das Ergebnis sind Werke, die nunmehr als „Standardwerke der tirolischen Sagenforschung“ bzw. als "Bereicherung der Südtiroler Sagen" gelten. Die fragwürdigen Methoden dieser beiden lassen mich nun schwer an der Seriosität und Glaubwürdigkeit von Sagensammlern überhaupt zweifeln. Vielleicht waren die beiden ja nur„schwarze Schafe“, dennoch bleibt ein bitterer Geschmack zurück und für mich stellen sich die Fragen: Wer noch hat auf diese Art Sagen „gesammelt“, wieviele (und welche) Sagen, die heute als ursprüngliche „Sagen aus dem Volk“ gelten, sind eigentlich nur Erfindungen (oder Hirngespinste, um es mal ganz böse auszudrücken) von Einzelnen, die sich dazu bemüßigt fühlten, ihnen Erzähltes nach eigenem Gutdünken zu „verbessern“?
Bin auf Eure Gedanken gespannt!
LG,
Dolasilla
PS: Der Artikel von Richard Wolfram mit dem Titel „Sorgen um Sagen“ ist hier vollständig zu lesen (ab S. 243):
https://www.volkskundemuseum.at/jar...ploads/downloads/OeZV_Volltexte/OEZV_1980.pdf
Wolff war ein autodidaktischer Volkskundler und Sagensammler, er ist vor allem für seine Sammlung der „Dolomitensagen“ bekannt. Wikipedia dazu:„Sein bleibendes Verdienst ist, noch vor dem Ersten Weltkrieg ladinische Sagen gesammelt und veröffentlicht zu haben, die, wie Wolff selbst bitter feststellen musste, schon wenige Jahre später fürimmer vergessen gewesen wären oder nicht mehr vervollständigt werden konnten, weil es keine Gewährsleute mehr gab. Wolff konzentrierte sich auf Sagen, die ihm typisch für Ladinien erschienen, während er jene ladinische Sagen, die auch anderswo ähnlich erzählt wurden, weitestgehend nicht beachtete. Insgesamt hat Wolff das Material zu Südtiroler Sagen wesentlich bereichert. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Felix_Wolff )
Dabei hat er es aber nicht beim Sammeln belassen, sondern die Sagen weiter bearbeitet, um nicht zu sagen: stellenweise frei erfunden. Das gab er auch ganz freimütig zu: "... komme ich noch einmal darauf zurück, was ich schon1913 erklärt habe, nämlich daß die Erzählungen von mir frei bearbeitet worden sind...Dazu gehört das Überbauen der Lücken und das Herausholen jener seelischen Stimmung, von der die Dolomitenbewohner selbst überhaupt nie sprechen.“ (zitiert nach https://www.sagen.at/doku/biographien/wolff.html)
Dazu fühlte er sich als Einheimischer offenbar berechtigt, denn „nur ein Verfasser, dervon seiner Kindheit an solche Eindrücke in sich aufgenommen und immer wieder Land und Leute gesehen und erlebt hatte, durft das unternehmen. …" (zitiert nach sagen.at: https://www.sagen.at/doku/biographien/wolff.html). Nun ja.
Die italienische Volkskundlerin und Professorin Ulrike Kindl bemängelte den allzu „kreativen“ Umgang Wolffs mit dem „Sammeln“ von Sagen, die tatsächlich eine subjektive Bearbeitung darstellen, auch in ihren Werken („Kritische Lektüre der Dolomitensagen von KarlFelix Wolff. Band I: Einzelsagen.IstitutLadin „Micurá de Rü“, St. Martin in Thurn 1983 und „Kritische Lektüre der Dolomitensagen von Karl Felix Wolff. Band II:Sagenzyklen – Die Erzählungen vom Reich der Fanes.Istitut Ladin „Micurá de Rü“, St. Martin in Thurn 1997, ISBN88-8171-003-X. )
Der Autor des Artikels „Sorgen um Sagen“, Richard Wolfram, schreibt, dass Wolff weiters auch zugab, lediglich zwei (!) Sagen, nämlich „Salvarja“und „Der Wintersenner“ wörtlich übersetzt aus dem Ladinischen Original übernommen zu haben. Eine der von ihm bearbeiteten Sagen hat er aus sage und schreibe fünf (!) verschiedenen Elementen zusammengeschustert. Wolfram wollte mehr darüber wissen und suchte das Gespräch mit Wolff (das scheint noch in den 1940er Jahren gewesen zu sein). Wolff meinte, dass die ladinischsprachigenMitschriften nach seinen Volkserzählern meist recht kurz und einfach waren. (Vielleicht hat er sie einfach zu kurz und langweilig gefunden und sie deswegen mehr „ausgeschmückt“, das ist mein Gedanke dazu). Wolfram interessierte sich brennend für die Urfassungen dieser Sagen und bat Wolff inständig, ihm (und der Wissenschaft )diese zugänglich zu machen. Wolff hingegen meinte nur, er habe die Originale verbrannt...
Nun zu Johann Adolf Heyl. Heyl war Lehrer, und wie Wolff sammelte auch er Sagen aus dem Volk. Eine der wichtigsten und größten Sagensammlungen Tirols stellt sein 800 Seiten starkes Buch „Volkssagen, Bräuche und Meinungen ausTirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf Heyl“ (Brixen1897) dar, das hier auf sagen.at online zu finden ist: https://www.sagen.at/texte/sagen/oesterreich/tirol/heyl/sagen_heyl.html und das zu den Standardwerken der tirolischen Sagenforschung gehört.
Heyl benennt brav seine Quellen (die Gewährsleute aus dem Volk), dabei fiel dem Autor des eingangs erwähnten Artikels auf, dass unter den Quellen ungewöhnlich viele Lehrer (eigentlich Lehrerinnen) zu finden waren. Wolfram wurde neugierig und wollte mehr darüber wissen, forschte nach und konnte eine ehemalige Lehrerin (Frau Amalia Laimer) ausfindig machen, die ihm von ihrer Ausbildungszeit zur Lehrerin unter Heyl erzählte. Heyl war nämlich von 1886 bis 1905 Lehrer an der Staatlichen Lehrerinnenbildungsanstalt in Innsbruck (ab 1906 sogar der Leiter) und bildete somit in dieser Funktion die künftigen Lehrerinnen aus. Zu seiner Ausbildung gehörte auch, dass die Lehramtskandidatinnen ihrem Lehrer Sagen liefern mussten. Frau Laimer berichtete, dass er die Lehramtskandidatinnen deswegen immens sekkiert hat und wenn diese ihm keine guten Sagen brachten, gab er ihnen schlechte Noten, was zu folgendem Ergebnis führte: „Ein Teil der Sagen bei Heyl ist deshalb derstunken und derlogen.“ (O-Ton Frau Laimer)
Ich muss schon sagen, ich bin wirklich platt!
Die Dolomitensagen von Wolff hab ich schon im Volksschulalter rauf und runter gelesen, die Tatsache, dass er die Sagen stark bearbeitet bzw. Teile davon schlichtweg erfunden hat, ist mir hingegen neu. Für mich geht das weit über die sogenannte künstlerische Freiheit hinaus. Dass er weiters die Originalmitschriften vernichtet hat – nun, da fehlen mir einfach nur mehr die Worte.
Freilich ist es so, dass bei jedem neuerlichen Erzählen von Geschichten jeglicher Art bewusst oder nicht bewusst Details weggelassen werden, andere, neue dazukommen oder leicht verändert werden, das liegt in der Natur der Sache und erinnert mich an das Kinderspiel „Stille Post“, dieses Phänomen ist uns wohl allen aus dem Alltag bekannt. Ein Sagensammler jedoch sollte – zumindest meiner Ansicht nach - jedoch Sammeln und das Gehörte und Erzählte so wortgetreu wie nur möglich wiedergeben (bzw. gegebenfalls übersetzen, wenn es sich um eine andere Sprache handelt). Nach meinem Verständnis heißt sammeln sammeln – und nicht verändern bzw neu erfinden, egal ob dies bewusst oder nicht bewusst geschieht.
Wolff hat die subjektiven Veränderungen jedoch mit voller Absicht vorgenommen und sah sich dazu auch durchaus berechtig, wir erinnern uns an seine Aussage: „Nur ein Verfasser, der von seiner Kindheit an solche Eindrücke in sich aufgenommen und immer wieder Land und Leute gesehen und erlebt hatte, durft das unternehmen. …„
Wir begegnen hier also einem Sagensammler, der die ihm zugetragenen Sagen nach Belieben ändert, ergänzt oder neu erfindet und einem Lehrer, der seine Schülerinnen mit schlechten Noten erpresst, um an gutes „Material“zu kommen; das Ergebnis sind Werke, die nunmehr als „Standardwerke der tirolischen Sagenforschung“ bzw. als "Bereicherung der Südtiroler Sagen" gelten. Die fragwürdigen Methoden dieser beiden lassen mich nun schwer an der Seriosität und Glaubwürdigkeit von Sagensammlern überhaupt zweifeln. Vielleicht waren die beiden ja nur„schwarze Schafe“, dennoch bleibt ein bitterer Geschmack zurück und für mich stellen sich die Fragen: Wer noch hat auf diese Art Sagen „gesammelt“, wieviele (und welche) Sagen, die heute als ursprüngliche „Sagen aus dem Volk“ gelten, sind eigentlich nur Erfindungen (oder Hirngespinste, um es mal ganz böse auszudrücken) von Einzelnen, die sich dazu bemüßigt fühlten, ihnen Erzähltes nach eigenem Gutdünken zu „verbessern“?
Bin auf Eure Gedanken gespannt!
LG,
Dolasilla
PS: Der Artikel von Richard Wolfram mit dem Titel „Sorgen um Sagen“ ist hier vollständig zu lesen (ab S. 243):
https://www.volkskundemuseum.at/jar...ploads/downloads/OeZV_Volltexte/OEZV_1980.pdf